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Helmuth Schönauerr
Vier Gedichte

1.
Die Bestenliste des ORF
ist wieder einmal so bestellt vorhersehbar
dass es nichts ausmacht
wenn sie sich nicht öffnen lässt
ein Sack voller Lebensmittel
wird nur mehr als Gewicht wahrgenommen
die einzelnen Posten sind belanglos
dennoch gibt es ein Ranking
so geht die Samstagszeitung völlig
in der Milch unter
wenn man sich damit
quer durch die Stadt macht
die Milch ist ein Ziel
für die nächsten Stunden
die Zeitung ist die Vergangenheit
und will aufregen
aber man schirmt sich ab vor Viren
Flüchtlingen und Gut-Meinungen

2.
Irgendwo hinter verschlossenen Türen
tagt wieder einmal
die Bischofskonferenz
es geht um die letzten Tage der Menschheit
und die schwarzgekutteten
weißen Männer haben Angst
dass mit der Erde
auch die Kirche untergehen könnte
so nimmt man sich auf die alten Tage
noch der Aufarbeitung alter Sünden an
jemand tritt vor die Presse und sagt
er sei der neue Missbrauchsbischof
sofort klemmen die Journalisten
beiderlei Geschlechts
ihre Beine zusammen
und wollen während des Interviews
niemandem zur erogenen Zone
Zutritt gewähren
der Bischof beruhigt
er werde sich bemühen
die Übergriffe zu orten und verorten
aber selber keinen Missbrauch begehen
zwischen den Beinen tritt Entspannung ein
die Ölscheichs tagen
mitten in der Corona-Krise
in Wien
und begrüßen einander mit den Unterschenkeln
um die Hände sauber zu halten
für das Geschäft

3.
Jetzt wo draußen das Virus herumfliegt
klammert sich die Menschheit heftig
an die eigenen Körper
was wenn ich in Quarantäne sitzen muss
und nichts konsumieren kann
außer mich selbst
wie halte ich es mit mir aus
zumal ich oft
weder lesen noch schreiben kann
was ist das
ein eigener Gedanke
was würde dieser nützen
wenn ihn niemand auf den Bildschirm kriegt
das lyrische Ich liest noch hastig
alle Gedichte
die es in Bevorratung gestapelt hat
wahrscheinlich ist alles
bald aus
aber der Akku
wird das letzte Gedicht
noch auf dem Display speisen
wenn das Herz schon
im Standby-Modus ist

4.
In der Isolation
verklumpt das Leben zu Büchern
ein sogenannter Lehrerkabarettist
ist erbärmlich
am Kopftumor eingegangen
sein Lieblingscafe ist leer
die kleinen Vormittagsrentner
passen zu jedem Tisch
der Lokalredakteur
bespricht nichts mehr
der Sohn des Beatnik-Autors
muss aus Brasilien heimgeflogen werden
Arbeitsunlust Rom Quarantäne
der Seniorenausflug abgesagt
der Rezensent schmeißt das Pizzaessen
weil er so gefährlich alt ist
seine Arbeit wird um ein Viertel reduziert
und der Vertrag bis 2023
befristet
die Uni wird abgeriegelt
erste Maskenmänner vor der Klinik
Regen setzt ein
Herzensbrecher
die einzige Musik zum Lesen
jemand kann nicht mehr in seinen Geburtsort zurück
weil er ständig vom Leben eingeholt wird
die Spitze
der Mitleids-Pyramide ist abgebrochen

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Helmuth Schönauer

    Gedichte lassen sich durchaus mit der Weltkugel vergleichen. Sie bestehen aus einer hauchdünnen Oberfläche, die wir sehen, und auf der wir herumspielen, und aus einem feurigen Kern voller Schwerkraft, was wir in der Dichterei die Konnotation nennen. (Das, was mitschwingt.) Über Gedichte lässt sich deshalb leicht reden, weil jeder eine Konnotation hat, und schwer reden, weil die dünne Oberfläche keine Grobheiten verträgt.
    Im Schöpfblog lässt sich die Verschmitztheit der Dichterei gut ausmachen. Am 7.10. erklärt Hannes Hofinger, dass Nobelpreisdichter in der Hauptsache aus Narrenfreiheit bestehen. Am 8.10. werden im Schöpfblog vier Gedichte installiert, damit das Publikum sieht, wie narrenfreie Gedichte aussehen. An diesem Tag wird nämlich der Nobelpreis für Literatur ausgerufen und er fällt heuer ja auf Lyrik.
    Was will uns die Konnotation sagen? Die vier Gedichte sind verdammt nah am Nobelpreis dran!

  2. Hannes Hofinger

    Lieber Helmuth,
    so ne Pension ist schon eine tolle Erfindung. Da wird aus einem Pornoschreiberling (Tirol-Kamasutra) ein echter Dichter!
    HERRLICH!
    lg hannes

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