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Alois Schöpf
Schlimmer als Mitterer
Auflagenmaximierende Autoren sollten sich weder über ihre Zeitgenossen noch über den Kapitalismus erheben.
Essay

Dieses Essay fällt mir nicht leicht. Denn ich führte schon einige sehr interessante Gespräche mit Lois Hechenblaikner und darf mich fast als einen seiner guten Bekannten bezeichnen, zumal ich ihn als Fotografen hoch einschätze. Was er und der Standard-Redakteur Stefan Gmünder sich jedoch mit ihrem im renommierten Steidl Verlag erschienenen Buch „Ischgl“ geleistet haben, ist ethisch inakzeptabel. Wenn Felix Mitterer kritisiert wurde, weil er in den Medien seinen Plan kundtat, eine Katastrophe, die über einen Ort hereinbrach, zum Ausgangspunkt einer Fortsetzung seiner satirischen Piefke-Saga zu machen, dann gehört Hechenblaikner und Gmünder ihre Geschmacklosigkeit geradezu um die Ohren gehauen: Sie haben sie nämlich realisiert!

Oder wie ist es einzuschätzen, wenn jemand ausgerechnet in dem Moment ein Buch über „Ischgl“ herausbringt, in dem der Ort als unfreiwilliger Infektionsherd der Covid-19 -Pandemie weltweit in die Schlagzeilen gerät, was marketingmäßig offenbar als die große Chance begriffen wurde, um mit Vorverurteilungen zum richtigen Zeitpunkt eine Medienschickeria zu bedienen, die vom Predigerstuhl ihrer privilegierten Arroganz herab vor allem in Sachen Tourismus nichts lieber tut, als basismarxistisch über all jene herzufallen, die wirtschaftlich erfolgreich sind. Darunter auch über die Ischgler, die in den letzten Jahrzehnten aus einem armen Tal, aus dem ohne Tourismus längst alle abgewandert wären, mithilfe von mutigen Seilbahnpionieren und tüchtigen Hoteliers ein internationales Mekka des Skifahrens und der winterlichen Vergnügungsindustrie aufgebaut haben.

Wie eine wildgewordene Gouvernante fällt Hechenblaikner über all jene vor und hinter den Après-Ski-Bars her, die in einem der schönsten und größten Wintersportgebiete der Alpen, um es umgangssprachlich zu formulieren, „die Sau herauslassen“, oder, um es vornehm anthropologisch zu formulieren, genau jene ekstatischen, ordinären und geilen Feste feiern, ohne die weltweit keine Kultur auskommt und bei denen Drogen, in welcher Form auch immer, eine zentrale Rolle spielen. Das einzige, das in der hedonistischen Welt der säkularen Orgien fehlt, sind an der Kassa die Priester, die bislang das Vergnügen des Volkes zur Sünde erklärten, um sich für ihre Absolution großzügige Apanagen gewähren zu lassen. Solche Beträge stecken fairerweise heute jene ein, die dafür auch investiert haben. Daher sind die Schamanen, welche in den heiligen Booten der Überfahrt die Verbindung zwischen der Unterwelt und dem Himmel herzustellen haben, auch nicht mehr Prediger, deren drohend erhobenen Zeigefinger sich Hechenblaikner zum Vorbild genommen hat, sondern Barkeeper, Kellnerinnen in Lederhosen-Hotpants und DJs, die mit ihren verdrehten Marschrhythmen und blitzenden Lichtorgien den Weg zum postmodernen Samadhi bereiten, dessen letztes Treibmittel Unmengen von Alkohol sind.

Hallo Lois, du aufdringlicher Moralist und selbst zuweilen gut bezahlter Fotograf des Ischgler Tourismusverbandes! Woher nimmst du eigentlich die Überheblichkeit, mit deinen denunziatorischen Fotografien über Leute herzufallen, von denen du nicht im Geringsten weißt, ob sie nicht dort, wo sie herkommen, in Deutschland oder in den Niederlanden, in Schweden, England oder auch nur in Österreich, ganz brave Bürger (Bürgerinnen) sind, die das Leben oft, wie das heißt, bis zum Anschlag anstrengt, die tagtäglich ihren oft mühsamen Job verrichten, solidarisch zu ihren Freunden und Freundinnen sind und das Leben  gut oder schlecht bewältigen wie du, oder die vielleicht einsam und unglücklich sind, weil sie mehr wollten, als sie erreicht haben, und die sich nun ein wenig Geld auf die Seite gelegt haben, um sich bei uns in den Alpen nach einem sonnigen Skitag, vollgepumpt mit Endorphinen, ihren komplizierten europäischen Alltag aus dem Kopf zu saufen? Was soll der lächerliche, grünbewegte Puritanismus, mit dem du uns mit zweifelsfrei meisterhaften Fotografien auf ganzen Doppelseiten eine menschenleere, mystische Natur vorzauberst, um sie sodann in langen und immer gleich öden Fotostrecken mit primitiv grölenden, unendlich viel Abfall produzierenden und enthemmten angeblichen Tourismusarschlöchern zu konfrontieren?

Fotografen sind oft vom Motiv so begeistert, dass sie keine Gedanken darauf verschwenden, wo sie ihre Bilder geistig einzuordnen haben. Hierin ähneln sie manch klangberauschtem Komponisten, der auch ein Telefonbuch vertonen würde, wenn er dafür den Auftrag bekäme. Umso wichtiger ist für Hechenblaikner Herr Gmünder mit prominentem Namen und Nachwort. Dessen Aufgabe als Chefideologe besteht darin, Hechenblaikners Bilder intellektuell so zu verpacken, dass aus der blanken Lust des Voyeurs ein edles Anliegen wird. Eine zeitgeistkompatible Anklage also, die im konkreten Fall, wenn man sie genau übersetzt, identisch mit den Predigten jener katholischen Fundamentalisten ist, die sich vor einigen Jahrzehnten nicht entblödeten, AIDS als eine gerechte Strafe Gottes für den Sittenverfall und das Existenzrecht der Schwulen zu bezeichnen. Auch im Falle „Ischgl“ lautet die Botschaft: Angesichts dieses von Hechenblaikner aufgezeigten Sittenverfalls und angesichts der angeblich neoliberalen und haltlosen Geldgier einer Tourismuswirtschaft, die alles daran setzte, um in den letzten Tagen der Wintersaison noch ihre Umsätze zu machen, war es eine logische und geradezu zwingende Notwendigkeit, dass von Ischgl aus ganz Europa mit dem Covid-19 Virus verseucht wurde.

Um dies zu verdeutlichen schwingt sich der Literaturredakteur Gmünder zu Sätzen auf wie: „Plötzlich standen die Lifestyle-Spezialisten aus dem Paznauntal als profitmaximierende Alpenkapitalisten und mächtige Lobbyisten da, denen Umsatz und das Summen ihrer elektronischen Registrierkassen über die Gesundheit ihrer Gäste ging.“ Und natürlich darf in einer systemkritischen Suada, die zu beweisen hat, dass hier jemand auf der richtigen Seite der Geschichte steht, nicht auf ein Zitat des Oberopportunisten Hans Magnus Enzensberger vergessen werden, der 1958 in seiner „Theorie des Tourismus“ meinte, „der Tourismus sei das Spiegelbild der Gesellschaft, von der er sich abstoße“. Und der 1968 in seinem Kursbuch verlautbaren ließ, die Schriftsteller sollten nun schleunigst ihre Schreibmaschine zur Seite schieben und sich ein Maschinengewehr umschnallen, um gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Und der 2008 auf Einladung des Klunker-Konzerns Swarovski öffentlich mit seinem Freund André Heller darüber parlierte, weshalb er vor seinem Haus unbedingt einen großen Garten benötige, um nicht bei der Arbeit vom Straßenlärm gestört zu werden.

Gmünder erweist sich als gelehriger Schüler des windschlüpfrigen Altmeisters. Zwecks Aufmerksamkeitsmaximierung am für Fotobücher schwierigen Buchmarkt rollt er den basismarxistischen Medienteppich aus, der dann auch brav von Deutschlands führendem Spießerblatt „Die Zeit“ und vom des deutschfranzösischen Edelbürgers liebsten Fernsehkanal „Arte“ beschritten wurde. Dass ihm dies mit blanken Unterstellungen und Vorurteilen gelang, ergibt sich inzwischen aus dem 300 Seiten starken und auf 5798 verschiedenen Dokumenten und auf zahlreichen Befragungen basierenden Bericht einer Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen OGH-Vizepräsidenten Ronald Rohrer, der dieser Tage, also im Oktober 2020, vorgestellt wurde. Wenn Gmünder so lange gewartet hätte, hätte er zwar den Prinzipien der Rechtsprechung und dem Restbestand eines journalistischen Ehrenkodexes gehuldigt, sich dabei aber das flotte Nachwort ruiniert. Daher stellte er, noch bevor er Genaueres wissen konnte, Behauptungen auf, die, wie man heute weiß, falsch sind, was ihn aber mitnichten veranlasste, zumindest in der 2. Auflage des Buches Korrekturen vorzunehmen.

Ihm zufolge haben die Ischgler Touristiker ihrer Profite zuliebe die Schließung der Skigebiete und der Hotels zu verzögern versucht und, um dies zu erreichen, Druck auf die Politiker ausgeübt. Der Bericht der Expertenkommission kommt zum eindeutigen Schluss, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Wenn es ein Versagen gab, dann resultierte es in erster Linie aus einem verfehlten Gutachten der Landessanitätsdirektion, wonach die Ansteckungsgefahr bei Après-Ski zu vernachlässigen sei. Und aus fehlender Kommunikation und unklarer Kompetenzverteilung im Rahmen der hoheitlichen Verwaltung, was zu einem Chaos bei der Evakuierung der Gäste führte.

Und was bleibt als Erkenntnis? Selbige hat wohl Alexander Solschenizyn in seinem im Jahre 1975 erschienenen Buch „Die Eiche und das Kalb“ mit dem Untertitel „Skizzen des literarischen Lebens“ letztgültig vor dem Leser ausgebreitet: Dass es wohl kaum eine Branche gibt, in der bei der kleinsten Hoffnung auf einen Lichtstrahl des Ruhms ethische Prinzipien so wenig gelten wie unter Künstlern und Intellektuellen. Ein trauriger und später Beweis für diese Beobachtung, die der Nobelpreisträger vor Jahrzehnten in der Sowjetunion anstellte, ist der Fotoband „Ischgl“ im inzwischen von der Meinungsdiktatur der politischen Korrektheit tyrannisierten angeblich freien Westen. Die beiden Autoren Lois Hechenblaikner und Stefan Gmünder haben brave Parteitagsliteratur abgeliefert.

Lois Hechenblaikner, Ischgl, mit einem Text von Stefan Gmünder, Steidl Verlag, Göttingen 2020, 35 €.

D

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Max Leitinger

    Wie geil ist das denn, das Epizentrum des Bösen, nun als Bildband – danke für die Anregung! Da weiß der selbstgefällige und scheintolerante Landsmann sofort wieder, dass er auf der Seite der Guten steht, für mich eine echte Buchempfehlung für Weihnachten! So deutlich und gut bebildert kommt uns die verderblich-unchristliche Seite selten zu Gesicht!

  2. Rinaldo

    Lieber Alois,
    Dein Freund, der Lois, muss Dir jedenfalls zu innigem Dank verpflichtet sein, für die Gratiswerbung im schoepfblog, und auch der Buchhandel, für den dadurch zu erwartenden Umsatzzuwachs um zumindest ein Exemplar. Der Inhaltsangabe dieses Werkes ist zu entnehmen, dass sich der Lois Hechenblaikner mit seiner Kamera mitten unter diesen, außer Rand und Band geratenen feiernden Menschen befunden hat, ebenso „auf den Hinterbühnen der Hüttengaudi“. Ein glattes Wunder, dass er sich nicht infiziert hat – oder hat er?
    Mit seiner Bilddokumentation betreibt er angeblich „fotografische Kultursoziologie“ und erlaubt einen ungeschönten Blick auf die Mechanismen einer profitorientierten und verantwortungslosen Vergnügungsindustrie.
    Eine Wortmeldung zu diesem Thema, Deines mit Y geschriebenen Namenskollegen und weisen Visionärs fehlt mir bis heute – vielleicht im soeben bestellten Buch enthalten. Ich kann es kaum erwarten.

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