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Alois Schöpf
Der Marsch ist und bleibt Kernrepertoire.

Wie oft habe ich das schon erlebt! Bis zur Pause werden sogenannte symphonische Originalwerke gespielt, auf die der Dirigent mächtig stolz ist. Die Pause selbst dauert dann viel zu lange. Der erwachsene, vor allem männliche Teil des Orchesters nützt die Gelegenheit und schüttet Alkohol in sich hinein. Danach folgt ein Mix aus seichter Unterhaltungs- und Filmmusik. Und das alles dargeboten von einer Blaskapelle! Zuletzt jedoch, nach dem Ende dieses sogenannten offiziellen Programms, breitet sich doch noch Vorfreude aus: Denn nun, ganz am Schluss, folgen die Zugaben. Erklingen endlich ein paar unserer klassischen Märsche!

Ja, wenn sie nur wirklich erklängen und dementsprechend einstudiert worden wären! Realität ist leider zu oft, dass das Marschbuch an der abgegriffensten Stelle aufgeschlagen und das dortselbst hundertfach kopierte Notenmaterial in beispielloser Schlampigkeit und Brutalität herunter gedroschen wird. Aber, um solch deprimierende musikalische Niederungen nicht weiter zu strapazieren: Selbst solche Tiefschläge überleben die meisten Märsche und beglücken das Publikum in den letzten Minuten, gleichsam als verspäteter Höhepunkt des ganzen Konzerts, mit Ideenreichtum und Schönheit.

Nach zwei Jahrhunderten des militaristischen Preußenstaates und zwei Weltkriegen, die an Schrecklichkeit alles bisherige übertrafen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Marschmusik, die bewusst als klingendes Propagandainstrument eingesetzt wurde, um die Moral der Truppen bei unmoralischen Handlungen zu beflügeln, in einer Zeit, in der Militär und staatliche Gewaltausübung als prinzipiell anrüchig gelten, mit massiven Imageproblemen zu kämpfen hat. Dabei ist der Blick auf den Marsch in seiner Funktion als Militärmusik schon deshalb verkürzt, da auch die sogenannten Siegermächte, die Deutschland und Österreich unter großen Opfern vom Monstrum der nationalsozialistischen Diktatur befreiten, ebenfalls für ihre Befreiungstaten Militärmusik einsetzten. Es sei nur an Glenn Miller und seine Air Force Band erinnert, die mit John Philip Sousa und Swing auch in Europa eine musikalische Revolution einleitete und einen Neustart der europäischen Unterhaltungsmusik begründete.

Den Marsch lediglich als missbrauchte Musik zu betrachten ist auch deshalb verkürzt, weil abseits von Militär und Staatsterrorismus schon immer das Bedürfnis bestand, das öffentliche Gehen von einem Ort zum anderen durch erhabene oder zumindest rhythmisierende Musik zu begleiten. Sei es durch Triumphmärsche beim Einzug siegreicher Truppen in der Oper oder durch Trauermärsche in der Realität beim Gang von der Aufbahrungshalle zur Kirche; seien es feierliche Rituale zum Einzug des Königs oder des Präsidenten oder sei es der Auszug des frisch getrauten Ehepaars; ganz abgesehen von religiös motivierten Prozessionen durch die Felder der Dörfer und ganz abgesehen vom fröhlichen Marsch nach der festlichen Messe zum Gasthaus mit seinem sommerlichen Gasthausgarten unter Kastanienbäumen.

So irritierend es für jeden Musikfreund sein mag: Wenn er damit beginnen wollte, seine Musik nach den Kriterien der politischen Korrektheit auszuwählen, würde wahrlich nur noch sehr wenig übrig bleiben. Denn ob nun ein Jean-Baptiste Lully oder Jean-Philip Rameau im Dienste eines egomanischen französischen Königs standen oder der hochverehrte Johann Sebastian Bach Kantatentexte vertonte, die aus heutiger Sicht jedem Psychiater große Freude bereiten würden, oder ob es die peinliche Anbiederung eines Beethoven an Napoleon oder die nicht minder peinliche Anbiederung eines Schostakowitsch an Stalin war: Wenn Musik nach den hohen moralischen Maßstäben ihrer Verwendung bzw. der fragwürdigen Moral ihrer opportunistischen Komponisten beurteilt würde, dann gebietet es die Gerechtigkeit, diesen scharfen Gesetzen die gesamte Musik und nicht nur die Marschmusik zu unterstellen.

Denn rein kompositorisch ist der Marsch in all seiner verblüffenden Einfachheit eine kaum überbietbare künstlerische Herausforderung, weshalb denn auch der schweizerische Dirigent und Musiktheoretiker Ernest Ansermet auf die Frage eines jungen Komponisten, womit er am besten seine Laufbahn beginne, die Antwort gab, er möge zuerst einmal versuchen, einen Marsch zu komponieren. Der Marsch stellt den Komponisten nämlich vor die Aufgabe, sich für die Dauer weniger Minuten im besten Falle drei, zumindest jedoch zwei Melodien einfallen zu lassen, die von einem halbwegs aufmerksamen Publikum nach ihrer Wiederholung begriffen und nachgesungen werden können. Es sei an dieser Stelle nur an so großartige Erfindungen wie „Einzug der Gladiatoren“ oder „Florentiner Marsch“ von Julius Fučík, aber auch an die drei meistgespielten Märsche der Welt „The Stars And Stripes Forever“ von John Philip Sousa, „Alte Kameraden“ von Carl Teike oder den „Radetzky Marsch“ von Johann Strauß Vater erinnert. Jeder, der diesen Artikel bis hierher gelesen hat, weil er sich für Blasmusik interessiert, kann wahrscheinlich von sämtlichen genannten Märschen zumindest eine Melodie aus dem Gedächtnis abrufen. Und dies gilt nicht nur für Blasmusikfreunde, sondern wohl für die allermeisten Menschen, die jemals mit der abendländischen Musik in Berührung gekommen sind. Ein solches Eindringen in das kollektive Weltkulturerbe ist eine Leistung, die, gerade weil sie so selbstverständlich zu sein scheint, in ihrer überragenden Genialität viel zu wenig gewürdigt wird.

Der Marsch ist also wie ein japanisches Haiku oder wie ein europäisches Sonett: eine äußerst strenge Form, die keinen Bluff, sondern nur die Frage erlaubt: Ist dir etwas eingefallen, lieber Komponist, oder hast du nur bei anderen gestohlen? Allein aus dem Bereich der altösterreichischen Monarchie sind an die 20.000 Märsche überliefert. Die wenigsten von ihnen dienten dem militärischen Gebrauch, die meisten von ihnen wurden komponiert, um als Hitparade des 19. Jahrhunderts das Publikum bei Promenadenkonzerten und bei Bällen zu unterhalten. Jene Werke, die überlebt haben und in den Kanon eingingen, eignen sich dramaturgisch immer noch hervorragend, um nach dem Motto, das Publikum im Rahmen eines Programms abwechselnd musikalisch herauszufordern und danach wieder zu versöhnen, als ideale Stütze und Absicherung, um darauf ein durchaus avanciertes Programm aufzubauen. Gleichsam wie die Pfähle, auf denen eine Stadt wie Venedig errichtet wurde.

Abgesehen von diesem dramaturgischen Aspekt sollte nicht vergessen werden, dass die Marschmusik von professionellen Orchestern in ihrer üblichen hochkulturellen Arroganz als minderwertige Musik ignoriert wird. Dies jedoch bedeutet, dass sie damit eines jener wenigen Genres ist, das eine meist aus Amateuren bestehende Blasmusikkapelle dem Publikum anbieten kann, ohne dabei von den Profis konkurrenziert und, was meist auf künstlerisch komplexere Werke zutrifft, desavouiert zu werden. Es grenzt daher fast schon an gefährliche Ignoranz, wenn eine Literatur, die noch im 19. Jahrhundert die Menschen begeisterte, ähnlich wie es heute die Erfolgstitel der Charts tun, buchstäblich links liegen gelassen bzw. im Hinblick auf die Perfektion der Aufführung nicht ernst genommen wird. Denn, dies ein letzter Aspekt: Gerade die Marschmusik ist in ihrer formalen Einfachheit ideal dazu geeignet, nicht nur von symphonischen Blasorchestern oder Bläserphilharmonien, wie sich heute die bläserische Elite hochtrabend selbst bezeichnet, bewältigt zu werden, sondern bei entsprechendem Wissen des Dirigenten auch von Blasmusikkapellen der Stufe A, B und C, die mit tunlichst perfekt einstudierten Märschen, deren musikphysiologische Kennzeichen der leicht beschleunigte Herzschlag und eine fröhliche Dur-Dreiklang-Harmonik sind, reine Lebensfreude verbreiten können.

Erschienen in: Blasmusik, Offizielle Fach- und Verbandszeitschrift des Bundes Deutscher Blasmusikverbände, April 2021.

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Hans Trefzer

    Sehr geehrter Herr Schöpf,
    zu Ihrer Kolummne zu dem o.a. Thema recht herzlichen Dank und Gratulation. Jedem Blasmusikdirigenten sollte das zur Kenntnis gegeben werden, und er sollte es sich ganz groß in seinem Büro an die Wand hängen. Nach über 60 Jahren als aktiver Blasmusiker habe ich insgesamt 4 Dirigenten in zwei Blasorchestern kennengelernt, die unterschiedliche Meinungen zum Thema Marsch hatten.
    Die Nr. 1 war ein ehemaliger Wehrmachtskapellmeister aus dem Dritten Reich. Marschmusik exzellent, Märsche im Konzert immer ein Muß und die Vorträge entsprechend. Sein Nachfolger, Nachkriegsgeneration war eher nicht für Märsche. Eher die sinfonische Blasmusik. Aber wenn Marsch, dann auch exzellent erarbeitet und fast zelebriert. War immer ein Genuß. Marschmusik im Freien negativ. Die Nr. 3 war ein energischer junger Dirigent, ausgebildet beim Blasmusikverband und als Zögling Trompete gelernt bei der Nr. 1. Immer sehr schöne Präsentation der Märsche im Freien und das Marschieren exakt geübt und erfolgreich ausgeführt.. Die Nr. 4 das Gegenteil von den dreien zuvor. Zum Abgewöhnen und einfach nichts.
    Besten Dank für die Kolummne und Grüße nach Tirol.

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