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Zu den Festtagen
Helmuth Schönauer
Wie warm, wie Winter!
Short Story

Seit ich meinen Bachelor für Ausgrabungen gemacht habe, ist wieder Ruhe im Haus, wir erwarten beinahe so etwas wie Weihnachtsfrieden. Unser Hotel ist leer wie die anderen sechzehn Fünfsterne-Anlagen im Bergdorf, die unterirdisch miteinander verbunden sind. Als Kinder sind meine Schwester und ich in den Tunneln mit dem Elektromobil gefahren und haben ab und zu Unfälle ausgelöst mit Versorgungswagen, die Tag und Nacht mit Fleisch oder Bettwäsche unterwegs sind.

Jetzt sitzt meine Schwester schwanger in ihrer Lärchensuite und geht nicht mehr vor die Tür. Ich liege dieser Tage fast ununterbrochen im körperwarmen Freiluftpool und schalte ab und zu den Sprudel ein. Zu sehen gibt es nichts, denn es schneit schon seit einer Woche. Bei trockenem Gelände könnte man die angrenzenden Hotels Südspitz, Doppelspitz und Austerlitz sehen, unsere beiden Hotels heißen Lärchenspitz und Föhrengupf.

Die letzten Jahre sind wir Jungen immer zu Weihnachten in den Süden geflogen, während unsere Alten die Hotelarbeit abgewickelt haben. Die Arbeit als Hotelleitung ist nicht sichtbar, aber umso anstrengender. Es gilt die Faustregel, wonach es im Haus so voll sein muss, dass du das Gebäude nicht mehr siehst.
Die Regel gilt übrigens für das ganze Dorf und das ganze Tal: erst wenn alles schwarz ist vor Menschen, ist die Kohle, die du damit verdienst, in Ordnung!

Jetzt ist überall rote Zone ausgerufen, sodass wir Hotelmenschen „Urlaub zu Hause“ machen müssen. Die Schwester ist mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt, ich mit mir im Pool. In meiner Bachelor-Arbeit habe ich ein Modell entwickelt, mit dem man Archäologie im Homeoffice betreiben kann. Zuerst wird dabei die Gegend abgescannt und später mit einem Roboter aufgegraben. Wenn alle gesuchten Funde digitalisiert sind, lässt sich das Gelände schnell wieder zuschütten, und aus dem Material kann man eine Ausstellung für das Heimatmuseum machen.

Bei meinen Probegrabungen habe ich zwei Schilifte und drei Hotels aus dem vorigen Jahrhundert freigelegt. Von diesen touristischen Pioniereinrichtungen hat niemand mehr im Dorf etwas gewusst, aber meine Erkenntnisse haben dennoch keine Neugierde ausgelöst. Alle sind um diese Zeit wie gelähmt, weil kein Wintertourismus stattfinden kann. Vater hockt mit den anderen Hotelbesitzern abwechselnd in einer der sechzehn Eingangshallen und kommentiert die Stornos, die ausgerufen werden wie früher die Zahlen auf der Grauvieh-Versteigerung.
Nicht einmal die neuen Schneekanonen lassen sich ausprobieren, weil entweder zu viel Schnee liegt oder die Lifte eingestellt sind. Im ganzen Ort findet sich keine Handvoll Leute, die heuer auf die Piste wollen.

Wenn ich im Bademantel durch die menschenleere Lobby wate, macht mich eine überdimensionierte Glotze an, auf der wie jedes Jahr zu Weihnachten eine Charity-Sendung läuft. Zwischendurch werden Geldsummen eingeblendet, die jemand online gespendet hat. Die lachenden Gesichter sind von den Nullen der Zahlenkolonnen überlagert, so dass sie nur in Bruchstücken über den Screen kommen. Ich habe den Ton abgedreht, um den Schneefall draußen zu hören.

Oma sitzt oben in der Fichtensuite. Wir haben unsere Suiten nach diversen Holzarten benannt, die umso hochwertiger sind, je mehr die Baumart schon ausgestorben ist. Ein Leben lang war zu Weihnachten der Höhepunkt des Gästestroms zu managen, alle mussten gegrüßt werden. Jeder zeigte schon beim Einchecken am Display die frischen Enkel, die das Jahr über neu geboren worden waren, manche hatten auch ein neues Auto mit, das sich gleich in der Tiefgarage heimisch fühlte.

Die Frau von der Rezeption haben wir nur mehr für die Stornos. Sie ist in Kurzarbeit und schaut ein paar Mal am Tag nach Oma, die sich weigert, aus der Suite zu gehen. Sie will nicht das Desaster sehen, das das leere Hotel ihr bedeutet. Mutter sitzt vor der Stornotabelle in hinteren Hotel, das man vom Pool aus nicht sieht, es ist der Föhrengupf. Vielleicht zehn Wintergäste sind insgesamt im Ort und haben sich in den eigenen Chalets verkrochen, die sie über heimische Strohmänner gekauft haben.

Wir rufen Mutter im Zweithotel gar nicht an, weil wir wissen, dass sie verzweifelt ist. Sie würde sich nur erschrecken. Ich bin wieder im Pool und räume meine Seele auf. Wir alle müssen da durch, für so etwas ist schließlich Weihnachten da. Wir sind selber schuld, wenn wir uns in diesen Touristenstress haben jagen lassen.

Meine Ausgrabungen haben gezeigt, dass alles verschwindet, was zu groß geworden ist. Entweder fliehen die Leute, wenn es nichts mehr zum Arbeiten gibt, oder die Natur fängt zu baggern an und gräbt die Landschaft um auf ihre Art. Der Wasserspeicher für die Beschneiung wird heuer ausschließlich für mich da sein, wenn ich das Poolwasser wechsle.

Ich werde die Gegend verlassen, sobald die rote Zone aufgehoben ist. Mit meinem Bachelor der Archäologie komme ich überall unter, zumal ich ja auch im Homeoffice arbeiten kann. Um 18 Uhr treffen wir uns alle im Gemeindeamt, da gibt es die ersten Impfungen. Wir werden unsere Ärmel hochkrempeln und uns für die Zukunft ein Stück Zuversicht spritzen lassen. Jemand wird sagen, dass der Erlöser heuer die Form einer Impfspritze angenommen hat.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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