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Alois Schöpf
Der Turm von Tanneneh
Short Story

Unter dem Langtauferer Ferner, der ein Arm des zwischen dem Schnalser- und dem Ötztal sich hinziehenden Vernagtferners ist, stand einmal eine große, reiche Stadt, und da noch kein Schnee die Täler bedeckte, erstreckte sich weithin ein schöner Tannenwald, daher hatte die Stadt ihren Namen: Tanneneh.

Leider war auch den Leuten von Tanneneh, wie in vielen anderen Gebieten der Alpen, das Geld zu Kopf gestiegen. Sie hatten mit dem Bau eines Turms begonnen, zur höheren Ehre Gottes, wie sie verlauten ließen, in Wirklichkeit jedoch, um den Menschen im Tal und im ganzen Land ihre Macht und ihren Reichtum zu zeigen. So wuchs der Turm empor, überragte bald die Langtauferer Spitze, wurde an regnerischen Tagen von Wolken umhüllt, denn bis zum Fuß des himmlischen Thrones wollten sie kommen.

Noch ehe es so weit war, brach im Tal unten eine verheerende Hungersnot aus. Unwetter hatten knapp vor der Ernte die Felder verwüstet und das Korn in die überschwemmte Erde gedroschen, nur die oben in Tanneneh hatte das Schicksal verschont, der Weißkugelberg stand schützend über der Stadt, zerteilte die heranziehenden Gewitterfronten an seinen mächtigen Flanken und lenkte sie geschwächt in eine andere Richtung.

Daher dachten die Menschen im Tal: Sollen sie in Tanneneh für ein Jahr ihren Turmbau unterbrechen, um uns zu helfen, Gott im Himmel verzichtet bestimmt zu unseren Gunsten. Auch die Geistlichen in den Dörfern hatten gegen eine solche Deutung des göttlichen Willens nichts einzuwenden, und so zogen sie an der Spitze einer Bittprozession, die immer länger und länger wurde, zu denen von Tanneneh hinauf. Bescheiden, doch mit dem rechtmäßigen Stolz der Notleidenden baten sie, die Stadt möge einen Teil ihres Reichtums abtreten, damit sie, die vom Schicksal Geschlagenen, über den Winter kämen. In beredten Bildern schilderten sie ihre Not, schickten die Kinder vor, um ihre eingefallenen Gesichter von den Stadtvätern begutachten zu lassen. Lange berieten die Herren von Tanneneh in ihrem prunkvollen Rathaus, die Antwort aber, die den Bittenden übersandt wurde, war so beschaffen, dass niemand Lust verspürte, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen. Das Wohlergehen derer vom Tal, hieß es darin, gehe die Stadt Tanneneh nichts an. Es sei vordringlicher, den Turmbau bis zum Winter fertigzustellen, man habe ein Gelöbnis getan, sichtbaren Dank für das empfangene Glück abzustatten, und man wolle nicht in bestehende Verträge eingreifen, vor allem, wenn man sie mit dem Himmel geschlossen habe. Es werde den Hilfesuchenden daher auch untersagt, bei den Bürgern der Stadt zu betteln, das könne ihre Not nicht lindern, sondern nur die Ungerechtigkeit fördern, denn der eine erhalte etwas, der andere nicht, wodurch Streit entstehe und Ruhe und Ordnung ins Wanken gerieten.

So lautete die Antwort des Rates, und so kam sie auch Gott im Himmel zu Ohren. Am liebsten hätte er die Stadt gleich mit einem einzigen Schlag vernichtet, sodass nicht das winzigste Steinchen an sie erinnert hätte, dann aber bedachte er, dass die Menschen nicht immer so schlecht sind wie jene, die über sie regieren. Er nahm daher die Gestalt eines Bettlers an und stieg auf die Erde herab. Als er nach Tanneneh hinaufging, in ärmliche Lumpen gehüllt, vornübergebeugt, an den Füßen nur Fetzen als Schuhwerk, kamen die Leute aus dem Tal gerade von ihrem vergeblichen Bittgang zurück. Sie fragten ihn, wohin er denn wolle.
Er sagte: „Nach Tanneneh, um Almosen bitten!“
Da nickten sie stumm und gingen weiter.
Er rief ihnen nach: „Weshalb sagt ihr nichts? Die sind doch so reich!“
Ein alter Bauer blieb stehen, drehte sich um, reckte die Faust gegen den Himmel und rief: „Und so fromm sind sie, dass sie lieber dem Gott da oben einen Turm bauen, als uns vor dem Hungertod zu erretten. Wenn das der himmlische Wille ist, zieh ich mit Freuden zum Teufel in die ewige Hölle!“

Der Bettler begann in seiner Tasche zu kramen: „Guter Mann, du sollst an der Gerechtigkeit Gottes nicht zweifeln, wenn es manchmal auch schwer ist. Nimm das Brot, ich brauch es nicht mehr, bald bin ich oben, da bekomm ich ein neues.“

Der Bettler hatte seiner Tasche ein schönes Stück Brot entnommen und es dem staunenden Bauern hingereicht, der wollte es nicht nehmen, der Bettler aber schob es dem Kind, das neben dem Mann stand und seine Hand hielt, unter den Arm und ging eilends davon. Die anderen setzten kopfschüttelnd den Weg ins Tal fort.

So kam der Bettler nach Tanneneh und klopfte beim ersten Haus an. Man war nicht verlegen um eine spöttische Antwort, dennoch ließ er sich nicht irremachen, klopfte an alle weiteren Türen, die Kinder rannten hinter ihm her, einige Erwachsene folgten ihm ebenfalls, lachten über die Geduld, mit der er sich nicht abweisen ließ, lachten noch mehr über den Spott und die Beleidigungen, die er sich anhören musste. Die meisten ließen sich nicht einmal dazu herab, sie meinten nur: „Wer fleißig ist, hat etwas zum Leben, wer nichts hat, ist faul und selbst daran schuld, wenn er verhungert“, und die ganz Obergescheiten fügten hinzu: „Wie bist du überhaupt in die Stadt gekommen? Weißt du nicht, dass es streng verboten ist, in Tanneneh zu betteln?“

Immer bedrückter wurde der Bettler, aber nicht, weil man ihm nichts gab, sondern weil der Untergang der schönen Stadt nicht mehr abzuwenden war. Nur ein kleines Mädchen war heimlich hinter dem Rücken des Vaters, der breit in der Tür stand und über den ungebetenen Besucher maulte, ins Haus gelaufen und mit einem frischen Brotlaib zurückgekehrt. Der Bettler spürte auf einmal, wie etwas Schweres in seine Tasche fiel, und als er sich umdrehte, stand das Kind hinter ihm und schaute ihn ängstlich an, als wollte es bitten, das Geheimnis nicht zu verraten. Er beugte sich zu ihm hin und sagte: „Kannst du dir etwas gut merken?“
Das Mädchen nickte und der Bettler fuhr fort: „Die Menschen in Tanneneh sind böse, darum müssen sie untergehen, da nützt es auch nichts, dass sie mir einen Turm bauen. Merk dir gut: Wenn sie zum ersten Mal die neue Glocke läuten, dann lauf ins Tal, so rasch du nur kannst. Du darfst aber niemanden mitnehmen, noch das Geheimnis verraten, sonst bist auch du verloren. Wirst du das nicht vergessen?“ Das Kind blickte ihn voll Entsetzen an und nickte, um zu zeigen, dass es verstanden habe, der Bettler setzte seinen Gang fort und fand niemanden mehr, der ihm etwas gegeben hätte.

Die Zeit schritt voran, der Herbst ging zu Ende, die Leute von Tanneneh hatten sowohl die Bittprozession derer vom Tal als auch den wunderlichen Bettler vergessen. Der Turm wurde noch vor dem Wintereinbruch fertig. Bei einem gewaltigen Fest wurden die Glocken in die Höhe gezogen. Als das erste Läuten zu hören war, begann es zu schneien. Die Leute lachten und riefen: „Jetzt haben wir es noch rechtzeitig geschafft!“, und sie freuten sich über ihr mächtiges Bauwerk.

Das Mädchen aber, das dem Bettler das Brot geschenkt hatte, lief, so rasch es konnte. Immer stärker begann es zu schneien, immer dichter fielen die Flocken, immer schlechter war die Sicht, vom Weg war bald fast nichts mehr zu sehen. Halb erfroren kam das Kind ins Tal, beim ersten Haus, hinter dessen Fenstern ein Lichtlein leuchtete, klopfte es an, dort wohnte der Bauer, der vom Bettler mit dem Brot beschenkt worden war. Staunend lauschte er der Geschichte, die das Mädchen vom Bettler und seiner Warnung erzählte, er hatte das Brot ganz vergessen. „Wer lässt sich schon gern von einem Bettler beschenken“, brummte er, als er hinausging, um das Brot in den Kleidern seines Enkelkindes zu suchen. Als er es gefunden hatte, musste er staunen. „Das Brot ist noch frisch wie am ersten Tag, obgleich Wochen vergangen sind. Ich schenke es dir, iss, du bist sicher hungrig, ohne dich wär es doch noch verdorben.“

So aß das Mädchen vom Brot, draußen schneite es, als wollte der Winter die Schneelast eines ganzen Jahres in wenigen Stunden über die Erde ausschütten.
Als das Mädchen satt war, aß der alte Bauer vom Brot, schüttelte anerkennend den Kopf: „So ein gutes Brot, da könnt unser Bäcker sich was abschauen“, dann aßen noch die Frau des alten Bauern, der Jungbauer, dessen Frau, die Kinder, das Brot wurde nicht kleiner, kaum schaute man nicht hin, lag es wieder dort, als habe es kein Mensch berührt. Die Freude kann man sich denken, endlich mussten die Bissen nicht abgezählt werden; wenn das so blieb, war der Hunger gebannt! Schon bereuten die Leute, dass sie so freigebig gewesen waren, sie fürchteten, das Mädchen gehe davon und nehme das wundertätige Brot mit sich. Als hätte es ihre Gedanken erraten, sagte es: „Ich gebe euch das Brot wieder zurück, wenn ihr mich bei euch behaltet, ich hab heute alles verloren.“

Niemand hatte dagegen etwas einzuwenden, das Kind war groß genug, um arbeiten zu können, und das allein zählte auf einem Bauernhof. So schauten sie noch lange beim Fenster hinaus, das Wetter wurde nicht besser, sie gingen vor die Tür, nichts mehr war zu sehen, das fruchtbare Hochtal von Tanneneh war bis zum Rand voll mit Eis und Schnee.

Und so ist es geblieben, heute nennt man das Gebiet den Langtauferer Ferner. So ist die schöne Stadt untergegangen, das freigebige Mädchen aber ist bei denen im Tal geblieben, das Brot des Bettlers hat den ganzen Winter über seine Wunderwirkung beibehalten, da konnten noch so viele davon essen. Erst im Frühjahr, als einer sagte: „Ja, wird denn das Brot niemals weniger?“, ist es weniger geworden, aber zu diesem Zeitpunkt war die ärgste Not überstanden.

Über Tanneneh aber hat sich ein Reim erhalten: Stadt Tanneneh, weh dir, weh! Der Schnee ist so schwer und apert nimmermehr!


Aus: Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen, Limbus Preziosen 2020

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Bravo Herr Schöpf, immer interessant Ihre Artikel zu lesen!
    Danke, Bruno Mangweth

  2. Hans Pöham

    Gerade meinen zehnjährigen Enkel das Tanneneh vorgelesen. Er hat bis ans Ende aufmerksam – mit Zwischenfragen – gelauscht.

    Ob die Leute von Sankt Neutanneneh je die Zeit dazu haben werden, es zu lesen, es je zu verstehen?

  3. dr.eibel

    meisterschreiber! danke

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