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Peter Kurer
Das Ende der Intellektuellen naht.
Ereignisse und Trends zählen immer mehr, Ideen immer weniger.
Essay

Als der britische Premier Harold MacMillan von einem jungen Journalisten gefragt wurde, was seine Tätigkeit am meisten geprägt habe, überlegte er kurz und gab dann bedächtig zur Antwort: «Events, dear boy, events». Das Zitat ist umstritten, aber sollte es wahr sein, hat MacMillan wohl an die Suezkrise gedacht, die seinem Vorgänger Anthony Eden das Genick brach und ihn an die Spitze der britischen Regierung hievte.

Die Suezkrise war das einschneidendste politische Ereignis der mittleren Fünfzigerjahre: sie führte zu einer diplomatischen Verstimmung zwischen den USA und England, einer Pfundkrise und einem Regierungswechsel. Das waren aber nur die kurzfristigen, sofort sichtbaren Auswirkungen. Gewichtiger waren die längerfristigen Effekte, die bis heute andauern.

Die Franzosen waren enttäuscht, dass die Briten dem amerikanischen Druck nachgaben und sich vom Suezkanal zurückzogen. In der Folge näherten sie sich Deutschland an, und wenige Jahre später legte de Gaulle sein erstes Veto gegen die Aufnahme Englands in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ein. Das prägt Europa bis heute, nach Brexit mehr denn je.

Die Suezkrise war keine der ganz grossen Wunden der Menschheit, kein Weltkrieg, kein Holocaust, keine Atombombe. Sie war ein Grossereignis, wie es sich alle paar Jahre wieder ereignet, wie die Ermordung Kennedys, die Mondlandung, der Fall der Berliner Mauer oder der Anschlag auf das World Trade Center. Suez bleibt aber das klassische Lehrstück dafür, was Ereignisse bewirken können.

Solche Lehrstücke können wir gebrauchen. In den letzten zehn Jahren haben wir in rascher Abfolge Events erlebt, die sich in ähnlicher Bedeutungshöhe wie die Suezkrise bewegen und deshalb mit dem bezeichnenden Beiwort «Krise», «Nemesis» oder «Desaster» ausgestattet werden: die Banken- und Finanzkrise, dann Trump und schliesslich Corona. Wir leben in einer ereignisreichen Zeit.

MacMillans brillanter Biograf, D.R. Thorpe, notierte zur Suezkrise, dass die öffentliche Meinung erstmals über den Ausgang eines Krieges entschieden habe. Damit zeigte er auf, welche enge Rückkoppelungen in der modernen Welt zwischen realen Ereignissen und deren medialer Verarbeitung bestehen. Seither ist der Druck der öffentlichen Meinung auf Entscheidungsträger ins Unermessliche gestiegen. Sie treibt die handelnden Akteure in Politik, Wirtschaft und Akademie so vor sich her, wie der Rattenfänger von Hameln die Nagetiere nach sich zog.

Aber nicht nur die handelnden Akteure sind der öffentlichen Meinung zu Ereignissen ausgesetzt, nein, auch wir gewöhnlichen Menschen sind ihr Opfer. Seit einem Jahr füllt die Corona-Krise einen erheblichen Teil unserer Mediengefässe. Ist das nötig?


Ohne Krisen wäre das Leben leer

Corona ist tragisch und hat viele weitreichende Auswirkungen auf unser Leben, die Wirtschaft, unsere Freiheit. Indessen müssen wir für uns selbst nicht viel wissen, um uns darin zu positionieren: Abstand halten, Hände waschen, Masken tragen, wenn möglich zuhause bleiben.

Dennoch lesen wir tagtäglich darüber – meist nicht wirklich relevante News oder Meinungen, sondern unzählige Interviews mit Experten, das Auf und Ab der Ansteckungen, sich wiederholende Ratschläge über das korrekte Tragen der Maske, Forderungen der Interessengruppen und Auseinandersetzungen zwischen Ideologen über die Aufgabe von Wissenschaft, Staat und Politik. Warum geben wir uns diesem zeitraubenden Konsum von öffentlicher Meinung hin?

Die Antwort lautet: wir sind süchtig geworden nach Ereignissen und ihrer intensiven medialen Verarbeitung. Unser Leben ohne rasche Abfolge von Krisen, Desastern und einer gelegentlichen Nemesis wäre öde und leer, die Mailbox ausgehungert, Online-Dienste und Twitter nur noch Rinnsale. Wie jede Sucht verändert auch diese unser Leben rund um die Uhr.

Ich kann mir kaum etwas anderes vorstellen, das uns annähernd so prägt wie solche Ereignisse – ausser Trends. Wenn wir uns nicht gerade über Events ereifern, sehen wir die Welt in Trends. Damit meine ich nicht Strömungen des Lebensstils, mit denen wir unsere Marotten und kleinen Sünden kaschieren, wie breite Hosen statt Skinny Jeans, Minimalismus in der Wohnung und der Garderobe, Veganismus statt Vegetarismus. Trends stehen hier auch nicht für Prognosen, wie Naisbitt und das WEF den Begriff verwenden.

Gemeint sind hier vielmehr längerfristige Entwicklungen, die empirisch evident sind: Klimaveränderung, Globalisierung, zunehmende Ungleichheit und Digitalisierung. Im Grunde sind Trends nichts anderes als reale Ereignisse, die sich aneinanderreihen und nach einer gewissen Zeit eine rote Linie offenbaren. Globalisierung beispielsweise bedeutete zuerst internationaler Handel, dann Direktinvestitionen und schliesslich Aufbau von globalen Lieferketten. Digitalisierung verlief entlang einer Entwicklungslinie, die vor allem aus der Erfindung des Computers, dem Internet, dem Worldwide Web, Windows, Smartphone und dem heutigen Vorstoss des Digitalen in alle Lebensbereiche besteht.

Trends beeinflussen unser Denken wie Events, wenn auch nicht gleich stark wie letztere. Dies hat seinen Grund: Ereignisse platzen ins Haus und machen alle auf der Stelle aufgeregt. Trends kommen dagegen auf Samtpfoten daher und sind anfänglich nur für geübte Augen erkennbar, bevor sie im Laufe der Zeit so ins Auge springen wie ein Ereignis. Der Club of Rome hat vor fünfzig Jahren in aller Deutlichkeit auf die prekäre Situation unseres Planeten hingewiesen, die öffentliche Meinung nimmt dies erst seit kurzem zur Kenntnis.

Nur nebenbei: dieses Beispiel indiziert auch eine gewisse Pathologie der medialen Wirklichkeit. Es wäre wohl besser, wenn wir uns etwas weniger über Events ereiferten und uns dafür mehr um die wirklichen Trends kümmerten. Ereignisse und Trends prägen uns, wir reagieren auf sie und definieren damit unsere eigene Zukunft.


Ideen

Die dritte grosse Kraft, die uns so beeinflusst, sind Ideen. Ideen sind aber etwas ganz anderes als Ereignisse und Trends. Während sich letztere objektiv in der realen Welt ereignen, entspringen Ideen dem denkenden Kopf. Victor Hugo soll gesagt haben, nichts sei mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Dies ist die Antithese zum Ereigniszitat von MacMillan. Der Unterschied könnte nicht grösser sein: hier der Intellektuelle im 19. Jahrhundert, der im postrevolutionären Frankreich an die Macht des Geistes glaubte – dort der politische Praktiker der frühen Gegenwart, der nach Weltkriegen und Suez meinte, Ereignisse prägten die Welt.

Ideen haben lange Zeit die Geschichte der Menschheit definiert. Die erheblichsten davon waren normative Entwürfe, die sich später zum verbindlichen Kodex der westlichen Kultur verdichteten: Rule of Law, Demokratie, Freiheitsrechte, Gewaltentrennung. Dann die grossen philosophischen Ideen: Der Disput der Griechen zwischen einer realistischen oder einer idealistischen Weltsicht, die Aufklärung, der deutsche Idealismus, diese und einige weitere klar formulierten und verständlichen Ideen haben die Entwicklung der Menschheit geprägt und sie weitergebracht.


Geschrumpfte Expertenwelt

Die Macht der Ideen lässt indessen nach. Die ältere Gegenwart hat noch Ideen wie den Existentialismus oder den Renouveau catholique gesehen, philosophische Konzepte, die einflussreich waren, aber nicht mehr die Durchschlagskraft der früheren Ideen erreichten. Und heute? Der englische Autor Marcus Weeks hat geschrieben: “If history is any guide, there is no doubt that another Socrates, Descartes, Hume or Kant will emerge […] with a revolutionary new idea to change forever the way we think.” Man setze die relevanten Jahreszahlen hinter die Namen: Es ist ein Warten auf Godot!

Inzwischen ersetzt der Typus des modernen Experten denjenigen des klassischen Intellektuellen. Dieser dachte in den grossen philosophischen, historischen und politischen Zusammenhängen. Er verknüpfte isolierte Vorgänge zu einer integralen Sicht der Welt. Seine Werkstatt bestand aus den allumfassenden Ideen. Die modernen Experten funktionieren anders, sie denken weder in grossen normativen Entwürfen noch in philosophischen Gesamtzusammenhängen. Stattdessen fokussieren sie auf Gegebenheiten in der realen Welt und konzentrieren sich dabei auf ein enges Fachgebiet wie ein Virus oder die Digitalisierung.

In unserer wissensbasierten und hochgradig arbeitsteiligen Welt ist die Kompetenz von Experten zentral. Problematischer ist deren Auswirkung auf die öffentliche Wahrnehmung. Früher berieten Experten die Entscheidungsträger hinter verschlossener Türe. Heute kann man kaum das Radio aufdrehen, ohne dass ein Experte auf Sendung ist.

Bemerkenswert ist, wie diese Spezialisten ihr Fachgebiet eloquent und kompetent vertreten, oftmals aber nicht in der Lage sind, ihre Erkenntnisse in den weiteren Zusammenhang zu setzen. Anders als der klassische Intellektuelle argumentiert der Experte aus einer technokratisch organisierten Domäne oder gar einem Silo heraus.

In einer solchen Welt prasseln dank klassischen und sozialen Medien nicht nur die Ereignisse, sondern auch die Sicht der Experten dazu im Minutentakt auf uns herab. Nur die grossen Ideen und ihre Verarbeiter, die Intellektuellen, fehlen in diesem Universum der medialen Kurzmitteilung.

So stürmen wir in unseren Silos, Echokammern und Bubbles nach vorne, an der Spitze jeweils ein Experte, Influencer oder Trendforscher. Wir sind kompetent, glauben an untrügliche Daten und kennen alle digitalen Tricks. Gleichzeitig sehen wir die Zusammenhänge nicht mehr, fühlen uns in der Deutungslosigkeit verloren, ängstigen uns permanent vor irgendwelchen Risiken und werden zunehmend intolerant.

Auf dem Höhepunkt ihrer technischen Kompetenz hat sich, so scheint es, die Welt von der Aufklärung verabschiedet.

Dieser Essay ist im März 2021 im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

Peter Kurer

Peter Kurer wuchs in Zürich auf und besuchte das Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Die Matura machte er am Kollegium Appenzell im Jahre 1969. Er studierte Rechts-, Staats- und Politikwissenschaften an den Universitäten Zürich (Dr. iur.) und Chicago (LL.M). Danach war er Anwalt und Partner bei der internationalen Anwaltssozietät Baker & McKenzie. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Er praktizierte hauptsächlich im Bereich M&A und war gleichzeitig Mitglied mehrerer Verwaltungsräte wie Holcim, Kraft Jacobs Suchard, Danzas, und Rothschild Continuation Holdings. 2001 wechselte Peter Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise für ein Jahr das Präsidium der Bank. Von 2016 bis 2020 war er Präsident des Telekommunikationsunternehmens Sunrise. Heute ist Peter Kurer Verwaltungsratspräsident des Verlages „Kein & Aber“ sowie Mitglied des Verwaltungsrates von SoftwareOne. Daneben ist er publizistisch tätig. Sein Buch “Legal and Compliance Risk: A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business” erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

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