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Norbert Hölzl
Brasilien als Corona-Weltmeister

Nur ein „Grippchen“ meinte der Tropen-Trump Bolsonaro. Doch mittlerweile erreicht das Land die höchsten Todeszahlen.

Ich fahre seit 30 Jahren nach Brasilien. Bei meinen TV-Produktionen für den ORF suchte ich Themen, die man in Europa nicht kennt: vom deutsch geprägten Süden bis zu den Indianerfesten am Amazonas. Der Arzt Dr. Brugger in Caxias do Sul – die Familie stammt aus Klausen und freut sich über ihre Südtiroler Obstbäume – sprach aus, was ich nicht auszusprechen wagte: „Warum fahren diese Reporter aus Europa nach Brasilien, wenn in ihren Artikeln dann alle Vorurteile und Klischees stehen, die sie schon vorher hatten?“

Im Februar des Vorjahres wollte ich nur einen Monat in Brasilien bleiben. „Bleiben Sie länger!“, riet mir meine österreichische Ärztin, „In Brasilien sind Sie sicherer!“ Zum ersten Mal sah ich in den brasilianischen Weltnachrichten Innsbruck. Gezeigt wurde das Hotel mit den beiden ersten Corona-Fällen. Dann war etwas von zwei Fällen in Sao Paulo zu hören, eingeschleppt aus Italien, von mir beruhigende 3000 Kilometer entfernt. Es war Hochsaison und die Strände voll Leben.


Das böse Erwachen

In der Nacht zum 21. 3. 2020 wurde dann alles geschlossen, die Hotels mit Brettern vernagelt, die Strände leer. Essen konnte man in Plastikbehältern bestellen. Statt einem Monat musste ich vier Monate bleiben. Flüge wurden angeboten und laufend wieder abgesagt. Auf Umwegen kam ich zurück. Der 20. März 2020 war noch heile Welt. Ein Jahr später übertrafen Brasiliens Todeszahlen sogar jene der USA, wo Trump vorher Corona ebenso geleugnet hatte wie sein Pendant in Brasilien, obwohl beide selbst daran erkrankten.

Insgesamt hat Brasilien „nur“ 290.000 Tote gegenüber 540.000 in den USA. Aber seit Mitte März 2021 meldet Brasilien täglich 90.000 Neuinfektionen bei viel weniger Tests als bei uns und täglich etwa 2850 Tote gegenüber 1200 in den USA mit 54.000 neuen Fällen.

Die Frage, wie die Situation in Brasilien sich anlässt, ist irreführend. Denn das Land besteht aus 26 Bundesstaaten, die in Gesundheitsfragen unabhängig entscheiden. Als Brasilien im Jahre 1889 Republik wurde, übernahm es die Verfassung der Vereinigten Staaten und nannte sich „Vereinigte Staaten von Brasilien“. Als die Liebe zu den USA abkühlte, verschwand diese allzu direkte Namensgleichheit. Und als Präsident Bolsonaro die Pandemie als „Grippchen“ verniedlichte, ließ sein Parteigänger, der Gouverneur von Rio, alles offen und erfreute sich an überfüllten Stränden. Im nur 400 km entfernten Sao Paulo war jedoch alles geschlossen und der alte Spott der Paulistas sogar sichtbar: „Die Cariocas, die Bewohner von Rio, geben das Geld aus, das wir verdienen.“

Die Distanzen erleichterten die Eigenmächtigkeit der meist klugen Gouverneure. Da geht es nicht um Strecken wie Bergamo – Bozen oder Vorarlberg – Wien. Zwischen Pelotas oder Novo Hamburgo im Süden und Manaus, der Hauptstadt Amazoniens, liegen 5000 Kilometer. Da fragen derzeit die Gouverneure nicht bei der Zentralregierung an, ob sie an Wochenenden alle Geschäfte und Strände schließen sollen, wenn die Massen ans Meer drängen. Man stelle sich Ähnliches in der Nordtiroler Schisaison vor.


Bevölkerungsexplosion und Korruption

Die europäischen Botschaften warnten im Vorjahr vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Die brasilianischen Medien kritisierten Bolsonaro, der zwei Gesundheitsminister feuerte und durch einen General ersetzte. Doch lange vor dem „rechten“ Präsidenten hatten Rechte und Linke das Gesundheitssystem schon kaputt gespart. Ärzte und Pfleger waren plötzlich arbeitslos. Das schien kein Problem zu sein. Man sperrte in öffentlichen Spitälern ganze Abteilungen. Jetzt holt man das Personal zurück.

Das wirkliche Problem und vermutlich die Katastrophe der Zukunft wird nie angesprochen. Es ist zu heikel. 1920 hatte Brasilien 30 Millionen Einwohner. 2022, zur 200. Gründung des Staates, der vorher die größte Kolonie der Welt war, wird Brasilien 220 Millionen Einwohner haben. Eine Steigerung von 700% in nur 100 Jahren.

Österreich wuchs vergleichsweise um 37%. Sollte sich Brasilien in den nächsten 100 Jahren noch einmal diesen „Spaß“ erlauben, dann steigt es auf in die Liga von Indien und China. Russland, flächenmäßig das größte Land der Erde mit seinen 144 Millionen Einwohnern, wurde von Brasilien, dem fünftgrößten Land, längst überholt. Aber nicht durch Einwanderer, sondern durch die Liebe zur Liebe und zu Kindern. Das ist keineswegs ironisch gemeint. Papst Franziskus, Brasiliens argentinischer Nachbar, zielte genau darauf ab, als er sagte, die Menschheit könne sich nicht vermehren wie die Kaninchen. Seltsam, dass dieser Spruch des Papstes nicht ähnlich oft zitiert wird wie einst die pillenunfreundliche Enzyklika Pauls VI.

Dazu kommt noch eine Besonderheit der Geschichte. In den 50 Jahren seiner Regentschaft erhöhte Kaiser Peter oder Pedro II. die Staatseinnahmen um 1000%. Es herrschten eher Ordnung und Fortschritt. Heute stehen „Ordem e Progresso“ lediglich auf der Nationalflagge. Nach Pedros Abdankung stritten sich pausenlos vorwiegend Generäle um das Präsidentenamt: Staatsoberhaupt und Regierungschef zugleich wie in den USA. Gewählt für vier Jahre mit maximal einer Wiederwahl. Für langfristige Reformen bleibt da keine Zeit, denn fast jeder Präsident will sich und seinen Clan in wenigen Jahren reich machen. Von den heute noch lebenden Ex-Präsidenten wurden zwei, Dilma und Collor, wegen Korruption des Amtes enthoben, und Lula, der populärste, zu 12 Jahren Haft verurteilt. Das war 2017! Natürlich wegen Bereicherung, aber auch, um den Ex-Gewerkschafter 2018 als Kandidaten gegen den rechten Bolsonaro auszuschließen. Lula ist wieder frei. Aus 12 Jahren wurden 580 Tage Gefängnis. Der ungleich korruptere Collor, der an jedem Fass Öl von Petrobras mitnaschte, ging ein paar Jahre ins Ausland, um dann bis 2015 wieder im Senat zu sitzen, bis wegen neuerlicher Bereicherung prozessiert wurde.


Impfen für die Reichen

Ist es da ein Wunder, dass sich die Reichen beim Impfen ähnlich verhalten wie die Präsidenten? Trotz der 290.000 Coronatoten ist seit dem Impfstart am 18.1.2021 erst 1% der Bevölkerung geimpft, angefangen bei den ganz Alten wie bei uns. Für die Reichen schlossen sich private Kliniken zusammen und kauften 5 Millionen Dosen Covaxin direkt beim indischen Pharmakonzern Bharat Biotech. Das geschieht nicht geheim, sondern ganz offen: Man schädige damit ja nicht den staatlichen Impfplan und kurble sogar die Wirtschaft an. Wörtlich: „Wer für sein Essen im Restaurant bezahlt, nimmt es doch auch nicht anderen weg“.

Geheim gehalten wurden die Impf-Dosen für Mitglieder des Obersten Gerichts und ihre Familien. Trotzdem sollte man nicht mit Steinen werfen. In Moskau genügen Reisepass und 50 Euro für die Impfung mit „Genosse“-Sputnik V.

Merkwürdig berühren in Brasilien allerdings historische Rückblicke. Kaiser Peter oder Pedro, der gebildetste Herrscher seines Jahrhunderts, Cousin von Kaiser Franz Joseph, verfügte in Rio lange vor Wien über Elektrizität und Telefon. Er gründete das weltweit erste Forschungsinstitut für Tropenmedizin. Als 2020 der Wettlauf um den ersten Impfstoff begann, verwiesen in Sao Paulo Wissenschaftler auf diese Tradition und ihre Erfahrung mit Impfstoffen. Aber dann wurde es still.

Bolsonaro hatte andere Sorgen als Milliarden für die Wissenschaft auszugeben. Es könnte ja sein, dass der immer noch populäre Lula ihn 2022 als Präsident ablöst! Die Pandemie zeige die Ungleichheit zwischen Arm und Reich noch krasser als vorher, schreiben Journalisten: „Brasiliens Reiche haben die Sklaverei (offiziell abgeschafft 1888) seit langem normalisiert“. Das ist keine Übertreibung. Denn der Mindestlohn beträgt umgerechnet 200 bis 250 Euro. Bier oder Mineralwasser, das in den Tropen wirklich kein Luxus ist, kosten etwa gleich viel wie bei uns. Bei den letzten großen Studentendemonstrationen ging es um die Erhöhung der Bustarife und der Wasserpreise, die wieder zurückgenommen wurden. Nach meiner privaten Rechnung, die in Brasilien natürlich niemand anstellt, würde ein Sklave heute mit Anschaffungspreis, Unterkunft und Essen wohl mehr kosten als 200 Euro im Monat.



Völkermord in Amazonien

Im Vorjahr versuchte der 81jährige Bischof Erwin Kräutler die Weltöffentlichkeit mit dem Wort „Völkermord“ aufzurütteln. Es war in den Wochen, in denen Bilder von  fehlenden Beatmungsgeräten und den vielen Särgen in Manaus um die Welt gingen. Kräutler, ein gebürtiger Vorarlberger, war bis 2015 vierundreißig Jahre lang Bischof der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens. In den Urwaldgemeinden von Xingu kämpfte er für die Rechte der Indigenen und für den Regenwald.

Seine Kritik wurde und wird nicht einmal vom Vatikan beachtet. Der Pandemie sind die stets eng beisammen lebenden Indianer völlig schutzlos ausgeliefert. Wer von Indianervölkern spricht, ist ein Träumer. „Völker“ sind schon lange ausgerottet. Es gibt nur noch vereinzelte Stämme. Für Indianer oder Naturschutz hat sich noch kein Präsident eingesetzt. Die Regierungen rühmen sich zwar, die strengsten Naturschutzgesetze der Welt zu haben, sagen aber nie dazu, dass sie kaum eingehalten werden.

Zur 500 Jahr-Feier der Entdeckung Brasiliens im Jahre 2000 bereitete Globo in Rio, einer der größten privaten TV-Sender weltweit, ein weltumspannendes Brasilfest vor. Es ging unter im Protest der Umweltschützer. Auf ihren T-Shirts stand unter anderem: 97% der Indios ausgerottet! 95% des atlantischen Regenwaldes – er ist artenreicher als der Amazonas – vernichtet! In Europa wird diese Katastrophe nie erwähnt.

Wenn es stimmt, dass Umweltzerstörungen weitere Virusvarianten fördern, dann ist noch einiges zu befürchten. Die Demonstranten argumentierten: Es gibt nichts zu feiern. Wir haben unser herrliches Land schon längst ruiniert. Übrig blieb eine Ansprache von Präsident Cardoso vor mehr Polizei als Publikum.

Heute wird Wirtschaftsprofessor Cardoso von ausländischen Journalisten interviewt als der einzig „Gute“ unter den Ex-Präsidenten. Eine Delegation der Indianer hat der Professor in seinem „Palast der Morgenröte“ in Brasilia nicht einmal empfangen. Sie schossen Pfeile auf die pompöse Jubiläumsuhr als Zeichen, dass die Zeit gegen sie läuft. Knapp vor der nächsten Präsidentschaftswahl 2022 wird Brasilien seiner Staatsgründung vor 200 Jahren gedenken. Bleibt die Frage, was sich Bolsonaro als Propaganda einfallen lässt. Charmeoffensiven wird es nach dem Umgang mit der „Grippchen“-Pandemie nicht gut geben können.


Land der Zukunft

Kurz vor seinem Selbstmord 1942 in der Kaiserstadt Petropolis schrieb Stefan Zweig das Buch „Brasilien, Land der Zukunft“. Früher witzelten die Brasilianer: Wann beginnt endlich unsere Zukunft? Heute witzelt niemand mehr. Und kaum jemand kennt noch den Dichter aus Wien, der um 1930 bei seinen Lesungen in Brasilien gefeiert wurde.

Ein Sprichwort der Kaiserzeit lautete: Niemand stirbt an Hunger in Brasilien. Den Hunger in Europa nach dem Ersten Weltkrieg konnte man sich in Brasilien nicht einmal vorstellen. Bei meinem unfreiwilligen Aufenthalt während des Lockdowns 2020 wurde ich immer wieder höflich um einige Reais (Währung Real, Mehrzahl: Reais) gebeten. Man habe Hunger! Nach Einbruch der Dunkelheit wagte ich mich zum ersten Mal nicht mehr auf die fast menschenleeren Straßen, wo die Abfallsäcke durchwühlt wurden. Ich war nicht sicher, dass die Bitten um Essen in der Nacht ähnlich höflich ausfallen würden wie bei Sonnenschein.

Für Europäer ist es derzeit billig: für 1 Euro erhält man über 6 Reais. Ich erinnere mich an 1994. Da war 1 Real mehr wert als 1 Dollar. In der Pandemie sauste die Währung nach unten. Und das in einem der rohstoffreichsten Länder der Erde. Bolsonaro ist übrigens gar nicht so unpopulär! Es gibt zwar keine Sozialreformen, aber der Präsident lässt fallweise Geld verteilen, so im Bereich zwischen umgerechnet 40 und 100 Euro. Das Volk ist leidensfähig. Aber nicht mehr fröhlich wie vor der Pandemie, die sogar den Karneval gestohlen hat.


Buchtipp: “Weltpolitik einer Österreicherin“:


„Nach seinen TV-Dokumentationen schrieb Norbert Hölzl ein Buch über Brasilien seit der Unabhängigkeit unter Kaiserin Leopoldina mit zahlreichen Bezügen zu Österreich und Deutschland. 150 Fotos zeigen u.a. die 18jährige österreichische Brasilienexpedition oder die Austria-Parade im Karneval von Rio, ausgelöst von Hölzls portugiesischer Version des Filmes „Kaiser von Brasilien“.“

Edition Tirol, Eu 20.- ISBN-13978-3-85361-155-5
Prof. Dr. Peter Wolf, der einstige „Böse Wolf“ der „Die Presse“ darüber:
„Hölzls Buch erschloss mir eine neue Welt“.

Norbert Hölzl

Norbert Hölzl, Prof. Dr., ehemaliger Referatsleiter im ORF, Radio- und TV-Autor, TV-Regisseur und Buchautor.

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