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Karlheinz Töchterle
Alte Sprachen - eine Utopie
Essay

Gegenwärtig ist zwar, vor allem wohl dank der aktuellen politische Lage, die Debatte um eine Reform der Sekundarstufe I etwas abgeflaut, sie wird uns aber weiterhin beschäftigen, weil es in der Tat einige offene Fragen gibt, die einer Antwort bedürfen. Da in dem Fragenkomplex auch der Lateinunterricht, nicht nur, aber auch wegen seiner typendifferenzierenden Funktion, immer noch eine gewisse Rolle spielt, lohnt es sich vielleicht, seine Zukunft und die seines Nachbarfaches Griechisch in dem angerissenen Kontext zu reflektieren.

Die Frontstellung ist bekannt (und alt!): ‚Progressive’ oder wenn man so will, ‚linke’ Kräfte wenden sich gegen die derzeit übliche Verzweigung der Schullaufbahn für Zehnjährige in Mittelschule und Gymnasium und befürworten eine gemeinsame Schule bis zum Ende des Pflichtschulalters mit vierzehn oder fünfzehn Jahren.

Ein oft gehörtes Argument dafür und damit ein Kritikpunkt gegen die derzeit übliche Differenzierung ist der Vorwurf, dass damit bereits in sehr frühem Alter entscheidende Weichen für die Zukunft der jeweils Betroffenen gestellt, ja, dass die nicht zum Gymnasium Zugelassenen damit in eine Bildungssackgasse gelenkt würden. Das ist zurückzuweisen oder zumindest stark abzuschwächen.

Die Kritik trifft schon bezogen auf unser Schulsystem ins Leere: Jeder Mittelschulabschluss bietet den Anschluss an eine Fülle von Oberstufenformen und damit die Möglichkeit einer Matura. Und dieser Anschluss wird auch ausgiebig genützt. In den letzten Jahren lag der Anteil von Maturanten aus den Allgemeinbildenden Höheren Schulen, wie unsere Gymnasien bekanntlich im Amtsdeutsch heißen, lediglich um die dreißig Prozent. Alle anderen kamen aus Oberstufenformen, und sehr viele davon aus einer davor liegenden Haupt- oder Neuen Mittelschule.

Aber auch Abschlüsse ohne Matura wird man wohl nicht guten Gewissens als Sackgasse bezeichnen können. Und da liegt Österreich im internationalen Vergleich sehr gut: In den letzten Jahren haben stets mehr als neunzig Prozent aller österreichischen Schüler nach der Pflichtschule einen weiteren Abschluss gemacht, ein international beachtlich hoher Wert, weit vor dem mancher Länder mit Gesamtschule. Wenn es sich dabei z. B. um einen Lehrabschluss handelt, wird man wohl auch nicht von einer Sackgasse reden wollen, zumal bei der grassierenden Klage vom Facharbeitermangel in Österreich. Manchen Beiträgen zur Debatte scheint allerdings die Auffassung zugrunde zu liegen, dass jeder, der nicht zu einem Universitätsabschluss gelangt, in seiner Bildungslaufbahn gescheitert sei: Nicht nur, aber auch eine Folge des international verbreiteten und aus verschiedenen Quellen gespeisten „Akademisierungswahns“.

Ein Phänomen allerdings ist unübersehbar und verlangt eindeutig nach Reformen: In den Ballungsräumen – und hier vor allem in Wien – gibt es einen überaus starken Zustrom zu den AHS und damit eine sehr starke negative Selektion für die Mittelschulen, die das Niveau so senkt, dass tatsächlich nicht nur ein weiterführender Schulbesuch schwierig, sondern oft nicht einmal ein lernzielgerechter Abschluss der Pflichtschule erreicht wird. Eine Ursache des Phänomens liegt zweifellos in dem geringen Anteil von Pflichtschülern mit deutscher Muttersprache. Eine Folge des Andrangs an die AHS sind weiters ein Leistungsabfall und unbefriedigende Ergebnisse auch dort. Von einem „Gymnasium“ im herkömmlichen Sinn oder gar im Sinn einer „Eliteschule“ kann oft nicht mehr die Rede sein.

Ein Lösungsweg läge in einer stärkeren Leistungs- und Typendifferenzierung in der Sekundarstufe I, die auf diese Weise in einem ihrer Zweige auch wieder ein Gymnasium konventionellen Zuschnitts erhalten könnte, nun allerdings nicht mehr flächendeckend, sondern in fairer und offener Konkurrenz zu anderen, auf andere Begabungs- und Interessenslagen eingehende Zweige oder Typen.

Unbestritten bleibt, dass es gleichwohl auch und gerade in der Sekundarstufe I einen für alle gemeinsamen Kern von unabdingbaren Bildungszielen in Kulturfächern und – techniken geben muss. Dazu gehören Lesen, Schreiben, Rechnen, EDV und Englisch und wohl auch Grundkenntnisse oder –fertigkeiten in einigen anderen Bereichen wie etwa Politik oder Sport. In diesen Fächern wären nach wie vor gewisse generell gültige und standardisierte Niveaus anzustreben, weshalb es dort auch sinnvoll wäre, weiterhin in einem Verband von Jahrgangsklassen zu unterrichten (und evtl. das Erreichen der gewünschten Ziele dann in einer „Mittleren Reife“ zu bescheinigen).

In den typenbildenden und leistungsdifferenzierenden Fächern hingegen gäbe es eine modulare Struktur mit definierten Lernzielen, nach deren Erreichen man ins nächste Modul wechselt. Damit könnte jeder problemlos auf seinem jeweiligen Niveau um- oder aufsteigen.

Die Typendifferenzierung kann in großen Schulen innerhalb einer Institution erfolgen, solche Schulen können also in ihrem Haus mehrere Typen anbieten. Kleinere Schulen müssten hier wohl eine Auswahl treffen oder sich für einen Typus entscheiden, könnten das aber in Absprache und Kooperation mit anderen Schulen im Umkreis tun, sodass regional wieder ein komplettes Angebot zur Verfügung stünde.

Der Aufzählung konkreter Vorschläge sei noch vorausgeschickt, dass eine solche Typendifferenzierung in der noch alle Schüler betreffenden Sekundarstufe I möglichst breit und umfassend zu konzipieren wäre, d. h. die Fülle der möglichen Berufswege und der Lebenswirklichkeit möglichst vollständig abdecken sollte. Das ist schon für die Gegenwart ziemlich anspruchsvoll, für die nähere und weitere Zukunft nahezu unmöglich. Daher bleibt nichts anderes übrig, als eben doch vom aktuellen Bildungskanon einerseits und von einem als plausibel anzunehmenden Begabungsspektrum andererseits auszugehen. Es soll hier ja auch nicht um ein voll ausgefeiltes Konzept, sondern nur um einen Denkanstoß gehen.

Die folgende Liste zählt nicht nur mögliche Typen auf, sondern denkt auch entsprechende Fortsetzungen in einer Sekundarstufe II oder anderen Ausbildungsgängen an:

1. sprachlich-literarischer Typ:
Latein und Englisch von Beginn an, komplementär konzipiert (etwa nach dem „Biberacher Modell“ in Baden-Württemberg), später eine weitere Fremdsprache, optional eine vierte. Fortsetzung in einer der jetzigen AHS-Langform analogen Oberstufe mit der Option, Latein ab- und Griechisch oder eine weitere moderne Fremdsprache dazu zu wählen, sowie andere Oberstufenformen.

2. naturwissenschaftlich-technischer Typ:
Von Beginn an Schwerpunkt auf Mathematik und Naturwissenschaften, evtl. beginnend als „Flächenfächer“, dazu Informatik und fundierende Philosophie. Fortsetzung im selben Oberstufentypus oder in diversen Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS). (Diesen Typ könnte man angesichts seiner fachlichen Breite auch nochmals unterteilen.)

3. musisch-mimetischer Typ: Musik- und Theatergeschichte und -theorie, Instrumental- und Gesangsunterricht, diverse Formen darstellenden Spiels. Fortsetzung im selben Oberstufentypus, in Konservatorien, in Schauspielschulen.

4. handwerklich-kreativer Typ: Grundlegende Handwerkstechniken in verschiedenen Materialien, Basiskenntnisse und -fertigkeiten in bildenden Künsten. Fortsetzung im selben Oberstufentypus, in diversen BHS oder Kunstschulen oder in einer handwerklichen Lehre.

5. wirtschaftskundlicher Typ: Fokus auf ökonomischen, politischen, geographischen und soziologischen Themen. Wirtschaftsenglisch, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsmathematik. Fortsetzung im selben Oberstufentypus (der jetzigen HAK ähnlich), in Handelsschulen oder kaufmännischer Lehre.

Natürlich wären noch weitere Typen denkbar, etwa ein „sportlicher“, der, wie auch der musische, an schon bestehenden Spezialisierungen ausgerichtet sein könnte.

Der wesentliche Vorteil einer solchen Differenzierung ergäbe sich in erster Linie aus der Möglichkeit, dass sie den unterschiedlichen Begabungen und Interessenslagen der Schüler entgegenkäme. Der Fokus läge dann in der Tat, wie vielfach gefordert, eher auf zu fördernden Stärken. Vorhandene Schwächen stünden einem Schulerfolg weniger im Wege. Außerhalb des oben erwähnten unverzichtbaren Standardwissens könnte durch die Modularisierung auch viel besser auf Unterschiede in der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft Rücksicht genommen werden: Wer weniger leisten kann oder will, kommt eben auch nur weniger weit.

Natürlich bedeutete die Realisierung eines solchen Konzepts den Abschied von der Idee einer möglichst breiten und die ganze Sekundarstufe durchziehenden Allgemeinbildung und damit das definitive Ende eines flächendeckenden Gymnasiums ursprünglich humboldtscher Prägung. Das dürfte nicht wenige von dessen Freunden (zu denen auch ich mich zähle) zumindest irritieren, vielleicht sogar schockieren. Eine kurze historische Besinnung auf die Genese dieses Schultyps und insgesamt auf die unseres Fächerkanons kann vielleicht solche Aversionen mildern und einige weitere Argumente für das vorgestellte Konzept beisteuern.

Der Fächerkanon der abendländischen Schule hat seit der Antike einen Schwerpunkt im Bereich des Sprachlich-Literarischen. Die Gründe dafür kann man benennen. Als Indiz dafür mögen der Hinweis auf den „grammaticus“ als genereller Bezeichnung für den Lehrer und auf die Rhetorik als gängigen Schluss- und Höhepunkt einer Bildungslaufbahn genügen.

Das Mittelalter verstärkte diese Tendenz noch, da mit Bibellektüre und Heilsverkündigung sprachliche und rhetorische Kompetenzen noch mehr in den Mittelpunkt der Bildungsziele rückten und die zur Lektüre nötige Sprachkenntnis immer mehr die einer Fremdsprache wurde. Renaissance und Humanismus gaben dieser sprachlichen Zentrierung nochmals neue Impulse, sodass die dominierende Form der „Lateinschule“ immer noch fraglos blieb.

Deren Selbstverständlichkeit begann erst in der Aufklärung der frühen Neuzeit zu bröckeln. Ihr letztlicher Untergang führte aber nicht zu einer grundsätzlichen Revision des Kanons, im Gegenteil: Denn der nun vor allem im deutschen Kulturraum bestimmende Neuhumanismus hob erneut die antike Literatur und ihre zwei Sprachen ins Zentrum seiner Schulbildung, in deren Idealform, dem „humanistischen Gymnasium“, sie anfangs mehr als die Hälfte aller Stunden beanspruchten.

Andere Geistesströmungen traten unterstützend und verstärkend hinzu: etwa die Romantik mit ihrem Fokus auf Poesie und Kunst. Oder der deutsche Idealismus mit seiner Betonung individueller Geistigkeit und Vernunft. Noch bestehende Gegenpositionen wie der aufklärerische Philanthropinismus, der eine Ausbildung zum Praktischen und Nützlichen hin präferierte, setzten sich nicht durch, ja, wurden oft polemisch niedergemacht. Möglichst zweckfreie Individualbildung war das Ziel, antike, am besten griechische Sprachdenkmäler das allgemein anerkannte Mittel.

Dieser Extremismus ist längst obsolet, das Griechische verlor seine zentrale Stellung schon bald wieder an das Lateinische, das wiederum bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts der Konkurrenz anderer Sprachen und Fächer Raum geben musste.

So hat sich das Gymnasium in den zwei Jahrhunderten seines Bestehens trotz einiger Retardierungen, wie etwa die der zwei Weltkriege, gewaltig gewandelt. Reste der Gründungsidee haben sich aber gehalten: etwa das Ideal einer allgemeinen Bildung oder, noch immer, eine gewisse Prävalenz des Sprachlich-Literarischen, ablesbar z. B. an dem schlichten Indiz, dass die Sprachen immer noch als „Hauptfächer“ gelten, wohin es ansonsten nur die Mathematik geschafft hat.

Nun zeichnet sich, wie schon angedeutet, vor allem in den Ballungsräumen eine weitere Ausdünnung ab, weil schon die schiere Masse der an die AHS Strömenden das dem Gymnasium immer inhärente Konzept des Elitären zum Verschwinden bringt und natürlich ein „Gymnasium für alle“ (ein Schlagwort, mit dem vor ein paar Jahren eine Lösung des Dilemmas vorgeschlagen wurde) auch noch die letzten Reste der ursprünglichen Idee zu eliminieren droht.

In dieser Situation könnte ein spezieller Typus wie der oben angesprochene „sprachlich-literarische“ eine neue Chance bieten, weil er den inzwischen ausgedünnten Wesenszug des Gymnasialen wieder in den Mittelpunkt rückte und offensiv betonte. Gleichzeitig aber würde sein – oft nur noch impliziter – Anspruch auf Allgemeingültigkeit aufgegeben und der Konkurrenz mit anderen Fachschwerpunkten ausgesetzt.

Die hier vorgeschlagenen Denkansätze versuchen, das gegebene Begabungsspektrum zu bedenken und zugleich etwas mehr auf die Fülle der Fähigkeiten einzugehen, die in der heutigen Berufswelt gefordert, aber auch geschätzt sind. In manchen Bereichen, etwa im handwerklich-kreativen Bereich, ginge mit einer Aufnahme in den schulischen Fächerkanon und dem Hinweis auf die Breite möglicher Bildungsverläufe vielleicht auch eine dringend angebrachte höhere Wertschätzung einher.

Abschließend sei überlegt, inwiefern ein solch künftiger gymnasialer Typ mit sprachlich-literarischem Fachschwerpunkt in einem freien Wettbewerb mit anderen Schwerpunkten attraktiv bleiben und gewählt werden könnte. Entscheidend ist dabei die Anziehungskraft der Alten Sprachen, die in einem solchen Typ konzentriert angeboten würden.

Natürlich könnten und sollten sie nicht der einzige oder der Hauptgrund für die Wahl sein. Es ist vielmehr anzunehmen, dass nach wie vor viele Schüler und Eltern einen solchen Schwerpunkt attraktiv fänden, manche aus schlicht praktischen Erwägungen über den Wert von Fremdsprachenkenntnissen, mit denen ja immer auch Kenntnisse anderer Kulturen einhergehen, dann aber auch im Vertrauen auf die Stärke und die Transfereffekte einer solchen Bildung, die sich ja auch bisher vielfach bewährt hat und zum Kern eines zwar sich ausdifferenzierenden, aber immer noch vielfach angestrebten Bildungsbürgertums gehört.

Die gängigen Argumente für die Schulfächer Latein und Griechisch setze ich hier als bekannt voraus. Nicht alle teile ich. Noch immer hält sich z. B. hartnäckig die Behauptung, dass Latein eine besondere Schulung des ‚logischen Denkens’ mit sich brächte. Sie ist in dieser generellen Form sicher nicht aufrecht zu halten.

Ich möchte vor allem ein Argument hervorstreichen, das man zwar manchmal hört, aber selten in der konzentrierten Form, in der es heute vorgebracht werden kann und soll: Latein (und in seinem Gefolge dann auch Griechisch) ist das ‚europäischste’ Schulfach, das man sich vorstellen kann, und zwar sowohl in formaler und in materialer Hinsicht als auch im Sprach- und im Literaturunterricht. Latein ist die ideale Basis für die heute so wichtige und so oft geforderte europäische Mehrsprachigkeit, nicht nur lexematisch, sondern auch strukturell.

Die Alten Sprachen sind, da sie nicht auf Kommunikationsfähigkeit hin gelehrt werden, auch die einzigen, in denen das zentrale menschliche Phänomen „Sprache“ an sich permanent in den Blick genommen und reflektiert wird, eine natürlich weit über das Ziel der Mehrsprachigkeit hinausgehende Bildungsleistung, aber auch für diese höchst förderlich.

Die in der Literatur dieser Sprachen niedergelegten Gedanken haben wie keine anderen das europäische Denken geprägt, eine Behauptung, die noch mächtiger wird, wenn man auch die Literatur des Mittel- und des Neulateins in dieses Argument miteinbezieht. Natürlich erreicht die Kapazität der Lektüre auch in einer neuen, dafür mehr Unterrichtszeit erübrigenden Schulform nur einen winzigen Bruchteil davon, aber sie kann ein Bewusstsein dafür schaffen und den Horizont öffnen.

Eine erhöhte Präsenz im Unterricht könnte im Verein mit einer förderlichen Umgebung in einem speziellen, sich dem einstigen humanistischen Gymnasium wieder annähernden Typ genau diese für unsere Zukunft wohl wichtigen Stärken der Alten Sprachen wieder besser zur Geltung bringen – nicht mehr für alle, aber für jene, die dafür interessiert, begabt und empfänglich sind.

Karlheinz Töchterle

Karlheinz Töchterle ist österreichischer Altphilologe und Politiker. Er war von 2007 bis 2011 Rektor der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und vom 21. April 2011 bis zum 16. Dezember 2013 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Von Oktober 2013 bis November 2017 war er Abgeordneter zum Nationalrat. Privat: Konditionsstarker Bergsteiger, begeisterter Flügelhornist und Fußballtrainer der dörflichen Jugendmannschaft.

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