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Helmuth Schönauer
Sagenhafte Kräfte
Zu Alois Schöpfs akut erzählten Alpensagen "Der Traum vom Glück"
Essay

Die Torte des Siebzigjährigen ist das Buch. In den letzten Jahrzehnten hat das Buch hybride Ableger wie Taschenbuch, Selbstverleger, Book on Demand und Download anstandslos bewältigt und als Bereicherung zur Kenntnis genommen. Die Funktion als haptisches Paradebeispiel für einen Kulturträger konnte sogar noch ausgebaut werden. Inzwischen gilt das sorgfältig lektorierte Buch ohne Zweifel als das festliche Medium schlechthin, wenn eine besonders innige These verkündet oder ein runder Geburtstag des Autors gefeiert werden soll.

„Der Traum vom Glück“ erweist sich nicht nur als schicksalshafte Erzählung vom Glück, die den Sagenband gleichen Titels einläutet, sondern auch als Zentralgeschichte des Alpenraums. In der amerikanischen Verfassung ist diese Sachlage als „pursuit of happiness“ aufgeschrieben. In den Alpen wird sie von Generation zu Generation als Sage neu erzählt und fallweise neu aufgeschrieben, wenn die Leute überhaupt lesen können, was nicht bei jeder Generation gewiss ist.

In dieser Eröffnungssage also träumt ein Bauer aus dem versteckten Sarntal, dass er in Bozen auf der Brücke steht und das Glück findet. Er erkennt alle Details der Szenerie, wiewohl er noch nie in Bozen gewesen ist. Tatsächlich plagt ihn der Traum so lange, bis er „in echt“ nach Bozen fährt, einen Tag lang auf der Brücke steht und schließlich von einem Wachsoldaten angesprochen wird. Dieser erzählt ihm, dass er geträumt habe, auf einem Bauernhof im Sarntal sei ein Schatz verborgen, und obwohl er noch nie dort gewesen ist, kennt er viele Details. Der Bauer verstummt und verschwindet rasch nach Hause, erweist sich doch der Bauernhof im Soldatentraum als der seine. Und tatsächlich, an geträumter Stelle liegt der Schatz: Der Traum vom Glück ist wahr geworden!

An diesem Beispiel lässt sich natürlich pädagogisch einwandfrei das Wesen von Glück aufzeigen. Die Lokalitäten geben einen Hinweis, wie man sich in den Alpen mit den Träumen auseinandersetzen muss, indem man nämlich die Stadt als Informationsquelle nützt, aber das Glück vor Ort im Tal sucht. Dabei darf man die Information nicht wie auf Facebook teilen, sondern soll sie im Sinne einer Single-Omertá für sich behalten. Schließlich muss man ja selbst glücklich werden, leben und sterben.

Der ständige Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit ermöglicht erst das richtige Leben. Und im Zeitalter von Fake-News gibt die Sage schließlich einen Einblick in eine höhere Wahrheit, die sich über Fake und Nachricht erhebt, indem sie sich von beiden gleichermaßen entfernt.

Nicht umsonst greifen Autoren in totalitären Systemen stets auf einen verschütteten Sagenschatz zurück, weil dieser einen Ausweg aus der Tagespresse und der damit einhergehenden Zensur liefert. Nach wie vor sind beispielsweise Autoren der ehemaligen DDR die besten Kenner der griechischen Sagen.
Und das totalitäre System der Gegenwart besteht wohl aus dem Internet, das neben Wikipedia allerhand Fake-News und Irrläufern für die Literatur gebracht hat. Oft zwingt einen die political correctness zur Selbstzensur, wenn der Lesemob zuschlägt.

Alois Schöpf hat seine literarische Tätigkeit mit dem Aufarbeiten und Nacherzählen von Alpensagen begonnen. Damals in den 1970ern litt er darunter, dass er in einem pädagogisch recht engmaschigen Korsett erzählen musste, und er fand es betrüblich, von vorneherein als Erzähler für Jugendliche abgestempelt zu werden.

Als Geburtstagskind hat sich der Autor daher gewünscht, die Sagen für die Erwachsenen zu erzählen, weiß er doch wie alle gereiften Menschen, dass nichts so schwer ist wie die Information eines Erwachsenen gegen seinen Willen mit frechen Thesen. Nicht umsonst gilt das Handwerk der Erwachsenenbildner als die Königsklasse im pädagogischen Rennen um die Vermittlung von Lebenssinn.

Das Neuerzählen bringt auch eine Neuordnung der Sagen mit sich, weil es dem abgehangenen Lebenskünstler leichter ist, die Welt nach Notwendigkeit zu ordnen, als es ein Junger in seinem Drang nach Veränderung je schaffen könnte.

Die sieben Erzählfelder für die wichtigsten Lebensweisheiten lauten daher: Vom Glück und vom Unglück / Von der Liebe und der Leidenschaft / Von guten und bösen Herrschern / Von den Freuden und Nöten der Erkenntnis / Vom Wetter, von Tieren und Pflanzen / Von Unter- und Überirdischen / Vom Tod.

Dieses Curriculum über das Leben in der schroffen Welt in den Alpen ergänzt so gut wie alle Sachbücher über diverse Segmente des Alltags. Staatsphilosophisch aufgebauscht könnte man sogar die Forderung aufstellen, eine gute Regierung müsste sieben Ministerien mit diesen sieben Feldern haben, dann wäre alles Wesentliche abgedeckt.

In der Engführung des Sagenschatzes mit der politischen Gegenwart ergibt sich eine Erzählform, die stark an eine Glosse erinnert. Bei der Glosse wird ja auch ein Sachverhalt in ein einprägsames Bild gegossen, in alle Richtungen gedreht, um alle denkbaren Argumente dafür und dagegen zu finden, und am Schluss als offene Gedankenkomposition dem Leser überantwortet. (Wie degeneriert die Zeitgenossen auf diese radikale Denkform reagieren, zeigt sich oft an sogenannten Leserreaktionen, wenn verlangt wird, dass der Beitrag sofort gelöscht und der Autor gerichtlich verfolgt wird.)

Die Sagen sind wahrscheinlich deshalb so verblüffend aktuell, weil sie im Zweifelsfalle unantastbar sind. Niemand wird verlangen, dass die Frau Hitt vom Netz verschwindet, weil sie schon seit Jahrtausenden über der Stadt thront. Die Kids würden an dieser Stelle richtigerweise „drohnt“ schreiben.
So gesehen hat sich der Glossist Alois Schöpf ein Leben lang mit dem Aufsuchen verschütteter Stoffe und dem Herausarbeiten der Aktualität beschäftigt. Die Glossen sind dabei „sagenhaft“ klar geworden wie Sagen, und die Sagen lassen sich erzählen wie Kommentare zu jenem Alltagsgeschehen, das in der Zeitung dargestellt ist.

Den Alpensagen sind auch fünf Bilder von Hans Jöchl beigefügt. Einmal als Würdigung des 2003 verstorbenen Künstlers, der als Meister der Sagen-Illustration gilt, andererseits aber auch als Hinweis, dass alles Gelesene im Kopf zu etwas Individuellem verarbeitet werden muss. Wer Glück hat, dem entsteht dabei ein Bild.

Bei der Würdigung des Buches als ideales Geburtstagsgeschenk darf man neben den zwei Lesebändchen vor allem eines nicht vergessen: das Lektorat. Merle Rüdisser und Bernd Schuchter haben die Texte mit scharfen Augen betreut, um darauf hinzuweisen, dass das Buch etwas archaisches Klares ist wie jene Sagen, die darin immer wieder neu aufgeschrieben werden müssen.


Alois Schöpf: Der Traum vom Glück. Ausgewählte Alpensagen. Neu zusammengestellt und erzählt. Bilder von Hans Jöchl.
Innsbruck: Limbus 2020. 310 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-99039-191-4.


Vorabdruck aus „Buch in Pension“ Teil 2, erscheint April 2021 bei Sisyphus

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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