Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer
Zweier
Eine Verhunzung zu Norbert Gstreins Einer

Dieser Tage erscheint der Roman „Der zweite Jakob“ von Norbert Gstrein. Er ist ein Meisterstück, das lässt sich nach der Vorauslektüre sagen. Der Titel vom zweiten Jakob spielt auf den ersten Jakob an, der in der Erzählung „Einer“ 1988 Furore gemacht hat. Um diese Zeit ist auch die Verhunzung „Zweier“ entstanden.

Die Verhunzung ist eine Methode, bei der das sakrale Original für den profanen Gebrauch hergerichtet wird. Personen, Duktus und Plot bleiben erhalten, aber die Moral der Geschichte ändert sich, indem gezeigt wird, dass auch die Heroen der Literatur mit Wasser kochen und es mit der entsprechenden Lebensführung nicht so genau nehmen.

Der wahre Wert der Verhunzung lässt sich erst nach Jahrzehnten erkennen, wenn Original und Verhunzung in gleicher Weise verschimmelt sind und sich herausstellt, dass die Verhunzung oft resistenter ist als die Steilvorlage. Durch die despektierliche Umschreibung verlieren die Texte den Charakter einer Strafarbeit und schaffen Erleichterung und Gelächter, was im gängigen Literaturbetrieb freilich nicht gefragt ist.


Norbert Stadtschreiber – Zweier. Nacherzählung

Eins

Jetzt kommen sie und holen Norbert. Plötzlich hat das Knattern der Schreibmaschine aufgehört, er war schon den ganzen Vormittag der Jury im Ohr gelegen, sein einziger kleiner Text wurde von einem Hang über die Dächer zurückgeworfen auf den anderen, so wuchtig war er. Und die Germanisten, drei sind es, stehen wartend am Straßenrand, schauen auf die Germanistenfäuste, die behandschuht sind, auf die roten Kugelköpfe, die wie Helme aus den Germanistenschultern schauen.

Einer wird gewinnen, sagt einer. Einer muss gewinnen, sagt der andere, wir können gleich beim ersten bleiben, sagt der dritte.

Der Schnee ist wirklich so fest gefroren, wie das in der Literatur oft steht. Ich habe den festgefrorenen Schnee immer für Kitsch gehalten, sagt einer der Germanisten, dabei ist er wirklich so fest. Mich verblüfft es, sagt der andere, dass die Literatur so ist, wie man sie liest.

Als gleich darauf der Bus abfährt, schaukelt er wie bei einem Anfänger. Es ist offen, ob es der Busfahrer ist oder der Dichter, der den Bus in seinem ersten Text so schaukeln lässt. Immer wieder hatten die Germanisten auf ihrem Institut auf die Wanduhr geblickt: und es ist ein großer und ein kleiner Zeiger gewesen. Aus dem Geschäft – Geschäft steht drauf – sind zwei Schifahrer getreten mit Schiern auf den Schultern. Auf den Schiern steht der Name von Schiern, wie auch bei einem Roman immer Roman draufsteht. Es ist nur in der Literatur möglich, dass man mit so großen Schiern aus einem so kleinen Geschäft kommt. Logischer wäre es, wenn man aus einem Geschäft mit einem prallgefüllten Plastiksack käme, aber mit einem prallen Sack kann man nicht Schifahren, bloß mit einer prallen Blase.

Jetzt kommen sie, sagt Mutter, die seit dem Frühstück unruhig in der Küche auf und ab gegangen ist. In unanständigen Kreisen um den kalten Küchenherd, auf dem richtigerweise Töpfe und keine Schreibmaschine stehen. Jetzt hat er also schon wieder gewonnen! Sie hatte innegehalten, wenn es auch bloß ihr Bua war, der diese Preise einheimste.

Die drei Germanisten stehen noch immer vor dem elterlichen Hotel, am Balkon schaut jemand mit einem starken Unterkiefer herunter. Das muss Jakob sein, das ist Jakob, so war Jakob im Profil abgebildet. Endlich Jakob. In der Literatur muss alles Jakob heißen, was Erfolg haben will. Aber dieser Dorfjakob ist viel authentischer als der Kinderjakob der Tante Mitgutsch.

Die drei Germanisten rufen abwechselnd auf den Balkon hinauf: Jakob, komm herunter, du hast gewonnen, du bist Stadtschreiber, du kannst auf das blöde Tirol jetzt scheißen.
Einer der Germanisten redet in seiner Freizeit recht schweinisch, wiewohl das bei Jakob nichts nützt. Jakob ist mit seinem kleinen Text stets im literarischen Dienst und hat nie Ausgang davon.

Aber der Unterkiefer mahlt ein wenig hin und her, als wollte er sagen, ich bin nicht Jakob, ich bin Norbert, und er verschwindet mit dem Oberkiefer vom Balkon. Die Germanisten denken schon in der Sprache des alpinen Nouveau Roman und erzählen einander, dass Jakob, oder was sie dafür halten, ins Hausinnere gegangen ist. Jetzt wird er über einen Teppich gehen, jetzt vor einem Waschbecken stehen, jetzt in den Spiegel schauen und leicht erschrecken, die Germanisten kennen das Interieur nach solchen Balkonabgängen auswendig.

Wie nun, wenn sie den Schifahrer gesehen hätten, statt den Schreiber. Wir können doch keinen Stadtschifahrer mitbringen, auch wenn er aus Tirol wäre, wir müssen unbedingt den Schreiber erwischen, damit wir aus ihm einen echten Stadtschreiber machen können.

Und in den ersten Interviews muss er furchtbar auf das Scheißtirol mit seinen hinten gebliebenen Hinterbliebenen schimpfen. Von der Dorfseite her ist das Bellen eines Hundes zu hören. Wie könnte man einen Hund sonst hören, wenn er nicht bellen würde. Das Auto nähert sich in schneller Fahrt dem Dorf, weil es kein Traktor ist.

Das wird die Presse sein, argwöhnen die Germanisten, die befürchten müssen, dass man ihnen den im Haus verschollenen Stadtschreiber unter der Hand zu einem anderen Preis abschleppt. Im Cafe Scheißtirol sitzen die Gesichter in der Sonne. In den Gesichtern sitzen Augen, die jetzt dem Auto folgen, aber nach wie vor in den Augenhöhlen sitzen bleiben.

Wenn die uns Einer entführen, müssen wir Zweier nehmen, rät der Germanist, der in der Freizeit schweinisch redet. Das Auto fährt jetzt die gleichen Spurrillen zurück, die der Bus hinausgefahren ist. Es hätte ja gleich der Bus stehen bleiben können, dann hätte das Auto jetzt nicht so rasch auf das Dorf zu fahren müssen und im Cafe Scheißtirol hätte man sich ungestört bräunen können. Aber in der Literatur ist nur selten etwas logisch, sonst wäre es ja Politik. Wenn wir in der Küche wären, könnten wir uns Geschichten über Jakob erzählen, aber wir könnten nicht wissen, wie das Auto auf das Dorf zufährt. Wenn wir die blöden Augen nicht hätten, könnten wir uns in Ruhe bräunen und müssten nicht ständig Sachen anschauen, die oft unter den Augen der Germanisten zu Literatur gerinnen.

Wenn wir schon in der Küche wären, müssten wir nicht ständig etwas erfinden, was in Wirklichkeit läppisch ist. Wenn das so weiter geht, wird Zweier Stadtschreiber und Einer muss in Scheißtirol zurückbleiben. Aber da sei die Germanistik vor!


Zwei

„Ich weiß nicht mehr, es mag drei gewesen sein, halb vier“, sagt die Mutter, und die Germanisten hören den Bruch in ihrer Stimme. Die Blicke gehen unruhig hin und her. Schließlich sind es drei Germanisten, die stellvertretend für die Literaturgeschichte alles wissen wollen. Die Mutter ist mehr den Herd gewöhnt, daher blickt sie auf diesen. Da sie weiß, dass man das in der Rhetorik nicht darf, blickt sie auch noch über den Küchentisch, die Abspüle, den kalten Herd, und mehr ist einfach nicht da in der Küche des Hotels.

Es war mitten in der Nacht, und sie wusste im ersten Augenblick, sie war ja schließlich die Mutter, da musste etwas sein, und dachte nach, lauschte in die Dunkelheit, ob noch etwas zu hören wäre. Hatte jemand ans Fenster geklopft, oder sollte es ein Traum gewesen sein und sie sah etwas, wo nichts war?

Da es dunkel war, musste die Leuchtschrift vom Hotel schon abgeschaltet sein, sonst hätte man sie gesehen. Da nichts zu hören war, musste es still sein, sonst hätte man etwas gehört. Oft bildet man sich in der Literatur Sachen ein, die gar nicht sind, davon lebt gewissermaßen die Literatur, aber sie war Mutter in einem Hotel und stand in einer kargen Küche.
Mein Gott, denkt ein Germanist, wie schlicht und ergreifend diese Mutter erzählt! Da bilden wir in unseren Seminaren tonnenweise Germanisten aus, die alle den Schachtelsatz verwenden, und dann treffen wir hier im Hochgebirge auf eine schlichte Mutter, wie wir sie in der Gegenwartsliteratur kaum mehr antreffen.

Wenn die Mutter in der trostlosen Hotelküche schon so ergreifend erzählen kann, wie muss dann erst der Stadtschreiber ergreifend schreiben, wenn wir ihn einmal zu Gesicht bekommen.

Die Germanisten sind sich einig, dass die Mutter nicht nur schlicht und ergreifend erzählt, sondern auch die Dramaturgie des Erzählens in Vollendung beherrscht, als hätte sie Tag und Nacht Adalbert Stifter gelesen. Die Germanisten sind nämlich zu einer Zeit ausgebildet worden, wo an jedem Institut Brigitta- und Hochwaldseminare abgehalten wurden, eine prägende Sache, vor allem wenn das Land so klein ist und man immer nur einen einzigen Schriftsteller wissenschaftlich behandelt. Die Mutter hat nämlich von der Uhr erzählt und von einer genauen Zeitangabe, so dass bei den Germanisten eine große Spannung bleibt, was die Uhr bedeuten könne? Zudem blickt die Mutter noch immer auf verschiedene Gegenstände, so dass man einerseits ihre Betroffenheit und andererseits die Einrichtung der Küche genau nachempfinden kann.

Das nenne ich Erzählpfiff, denkt sich der Germanist mit der schweinischen Phantasie. „Ich bin aufgestanden“, sagt die Mutter und schaut den an, der die schweinische Phantasie hat, dann die anderen, und starrt plötzlich wie verloren vor sich hin. In Wirklichkeit hat sie bloß den Faden verloren.
Die Germanisten haben allerhand Geschichten im Kopf, weil sie ja sehr belesen sind. Freilich lesen sie immer nur deutsche Literatur und keine gute Literatur wie die amerikanische, daher haben sie in Wirklichkeit fast nichts gelesen. Was soll ein Germanist, der gerade die fade Geschichte des Dozenten Köpf über eine gewisse Strecke gelesen hat, für Bilder im Kopf haben, wenn er plötzlich in einer kargen hochalpinen Küche, womöglich noch den festgetretenen Schnee zwischen den Zehen, einer erzählerisch begabten Mutter eines kommenden Stadtschreibers gegenübersitzt? Lauter falsche Bilder wird er denken, auch wenn das Ambiente gut getroffen ist.

Der schweinische Germanist denkt, dass um drei oder halb vier jemand im Hotel das Ejakulat so laut ausgestoßen hat, dass die Mutter davon aufgewacht und in die Küche gerast ist. Der Germanist, der auf Stifter spezialisiert ist, denkt zuerst an ein Gewitter, dann an einen Steppensturm und schließlich an eine Katze, die vom kalten Dach gefallen ist, in seiner Schulzeit musste er einmal etwas Amerikanisches lesen. Aber er weiß auch, dass solche Bilder heute nicht mehr geschehen, wiewohl eine große Sehnsucht nach ihnen da ist, daher kann es vielleicht ein Gast gewesen sein, der sich im Stiegenhaus eine Camel aus dem Automaten ziehen wollte. Der dritte Germanist weiss, dass es eine sehr einfache Lösung geben muss, aber auch ihm sind durch die blöde Germanistenlektüre alle Gedanken verstellt, vielleicht hat ein unglückliches Stubenmädchen einen Abschiedsbrief geschrieben und beim Festkleben der Marke zu fest mit der Faust auf eine Unterlage gehauen. Die modernen Hotels sind sehr dünn gebaut, damit sie bei Lawinen wieder schneller aufgebaut werden können, alles ist auf Umsatz aus, auch im Hochgebirge.

„Warum haben Sie nicht früher angerufen?“ Sie antwortet nicht, den Blick voll Gleichmut gegen die Wand gerichtet, weil sie ja im Kücheninneren ist. Im Freien hätte sie den Gletscherblick auf die Gletscherwand gerichtet. Oder den Blick auch auf eines der Fenster gerichtet, als hätte sie endgültig genug von einer Kinderei.

Jetzt ist offensichtlich die Verstörung, von der Norbert erzählen will, bei der Mutter eingekehrt. Aber von einer Behörde darf man sich nicht in die Enge treiben lassen, schon gar nicht von einer Germanistenbehörde. So weit kommt es noch, dass die Mutter stündlich die Germanistik anrufen muss, um von der alpinen Schreibverstörung des Norbert zu berichten. Genügt es nicht, dass sie genau den Zeitpunkt angegeben hat, an dem Norbert diesen Jahrhundertsatz direkt in die Brother der Rezeption getippt hat? Es mag drei gewesen sein oder halb vier, da summte Norbert die Brother an und tippte: Jetzt kommen sie und holen Norbert ab!


Drei

„Und ihr?“ Die Germanisten sehen uns an, sie stehen mitten in der Küche wie Gehilfen, und sie halten die Kappen unverändert in den Händen, fragen mit geschulten Blick ein zweites Mal, den Schifahrerbruder und mich, und in der Überraschung starren wir auf den Tisch, wie es die Mutter ein Kapitel vorher getan hat, aber der Leser hat schon wieder alles vergessen, zumal er keine ordentliche amerikanische Literatur liest, daher erzählen wir gleich weiter, wo wir noch hinschauen: Auf den Herd, auf die Abspüle, zum Fenster und wieder auf den Tisch.

Ganz selten wird in einem alpinen Hotel während der Saison die Küche umgebaut, daher ist es unwahrscheinlich, dass sich die Kücheneinrichtung von einem Kapitel zum anderen ändert, zumal die Erzählung ja sehr dünn und kurz ist und jedes Möbelstück einzeln angeführt wird. „Ich habe ihn nach dem Abendessen in der Milchbar gesehen“, sagt der Schifahrerbruder und hebt seinen Blick. Es ist ein Rätsel, woher er den Satz hat.
„Er musste mich die ganze Zeit angeschaut haben.“ Es mochte acht gewesen sein, halb neun, früh am Abend noch, von den Plätzen waren die meisten nicht besetzt, irgendwo saß ein Paar, das sich flüsternd unterhielt, und in ihrem Eck riefen die Kartenspieler laut den Trumpf aus oder schlugen, einander überbietend, die Faust auf den Tisch, wie wenn sie die Marke auf einen Abschiedsbrief festhauen wollten.

„Ich habe nichts zu ihm gesagt.“ Der Schifahrerbruder sieht die Germanisten erneut an und erzählt alles noch einmal, dieses Mal, wie es sich bei Anwesenheit von Germanisten gehört, in indirekter Rede. Die Germanisten sind verblüfft, dass jemand ohne Seminar in indirekter Rede erzählen kann. Das kann man mit keinem Textverarbeitungssystem lernen, dazu braucht es Genie.

Außerdem verblüfft es sie immer wieder, wie genau die Zeitangaben waren, das gibt guten Prüfungsstoff, mit so einer Erzählung kann man eine dicke Klausur herunterfragen. Wann hat die Mutter den besagten Auftritt in der Nacht gehört? Wann ist das Postauto die Spurrillen hinausgefahren? Wo waren die Augen der Touristen auf der Terrasse des Cafés Scheißtirol? Welche Zeit gibt der Schifahrerbruder für seine Beobachtung an, dass er nichts gesagt hat? Solche Fragen gehen in die Tiefenstruktur des Textes, und da wollen wir alle hin, auch wenn der Text hoch oben in einem Alpenhotel spielt.

Einen Augenblick ist es ruhig in der Küche, und in dem Schweigen sehen wir Bilder, wie nach einer Diavorführung an der Wand zurückgeblieben. Ah, die gute alte Wand.

schreiben: Das westgerm. starke Verb mhd. schriben, ahd scriban, niederl. schrijven, aengl. scrifan „vorschreiben, anordnen“ ist wie die LW Brief und Tinte (s. d.) mit der röm. Schreibkunst aus dem Lat. entlehnt worden. Es beruht auf auf lat. scribere „schreiben“ (s. Manuskript, subskribieren), das eigentl. „mit dem Griffel eingraben, einzeichnen“ bedeutet und zu der unter -) scheren „schneiden“ dargestellten idg. Sippe gehört. S c h r e i b e r m (mhd. scribaere, ahd. scribari; im Mittelalter Bezeichnung höherer Beamter, z. B. der Kanzler und Notare, später der niederen Kanzlisten); a b s c h r e i b e n (mhd. abeschriben „abschreiben, kopieren“; auf der Bed. „in einer Liste löschen“ beruht die Wendung ‚jemanden abschreiben‘ für „nicht mehr mit ihm rechnen“; siehe auch Stadtschreiber, Grazerschreiber, Alpinschreiber

Gewiss, er bekam die Veränderungen zu spüren, zuerst im Gasthaus, aber er kämpfte dagegen an, hörte nicht auf die Schwägerin, da mochte die Chefin noch so oft das Personal rufen oder umgekehrt. Norbert wusste es einzurichten, dass er am Tisch saß, wenn jemand spät am Vormittag in Filzpantoffeln die Küche betrat, er wurde Schilehrer.

Den Germanisten bleibt der Speichel im Mund stecken, da haut er ihnen also ein Stück Wörterbuch hin, wie sie es selber nicht besser zusammen bringen, und dann die offensichtliche Verstörung, indem er Schilehrer sagt statt Stadtschreiber. Zerebral, alpin, wir wissen alle nicht, was in einem Stadtschreiber, vulgo Schilehrer vorgeht.


Vier

„Ihr kennt ihn ja.“ Viz sieht uns an, sieht die Gehilfen an, die Germanisten, und lehnt sich auf der Anrichte zurück, hält einen Augenblick inne, weil plötzlich ein neues Möbel in der Küche ist, und das mitten in der Saison. In die Stille der Innung, das Wort hat erstmals einen zusätzlichen Sinn bekommen, hört man die Schläge der Mittagsglocken, wie von weit herkommend, zwölf, und wieder schauen wir auf die stehen gebliebene Küchenuhr, die uns aber nichts ausmacht, weil wir ja die Glockenschläge hören.

In der Literatur kann oft eine Zeit ausfallen, aber durchs Fenster kommt dann eine andere, so ist immer etwas los in der Literatur. Und jetzt blickt Valentin auf sein Handgelenk: schon zehn Minuten nach. Als genaue Leser wissen wir, dass Valentin in einem Gefängnis gewesen sein muss, dort hat man ihm offensichtlich aus Unmut über die Haftbedingungen eine Uhr auf das Handgelenk tätowiert, so dass es jetzt auf der Haut des Handgelenks zehn Minuten nach ist. Man konnte nur den großen Zeiger eintätowieren, weil dann der Wärter gekommen ist und Valentin offensichtlich in eine andere Zelle verlegt wurde, in der niemand die Kunst des Tätowierens beherrschte. „Er schien gesprächiger als sonst“, fährt Viz jetzt fort, aber wir haben glücklicherweise die Geschichte von der Tätowierung erzählen können.


Fünf

Er trat ein, und die Musik wurde augenblicklich leise. Jetzt wissen wir, dass in der Pause vor dem Kapitel Musik war. Welche ist uns unbekannt, weil wir ja in der Literatur sind. Die Literatur der alpinen Gegenwart ist manchmal sehr genau, wie etwa bei der Beschreibung von Möbeln und Blicken, dann wieder sehr ungenau, weshalb dann oft der Leser die Arbeit des Autors erledigen muss, wiewohl er schon für das Buch bezahlt hat.

Jetzt haben wir schon vier Kapitel dieser dünnen Stadtschreibererzählung damit zugebracht, dass Germanisten etwas von hinten nach vorne erfahren. Kein Mensch versteht diese Geschichte, wenn man sie nicht von hinten nach vorne liest. Wenn noch etwas geschehen soll, muss es rasch geschehen, wie oft in der Literatur gegen Ende noch etwas geschieht, auch wenn kein Leser damit etwas anfangen kann.

Die dünne Stadtschreibergeschichte aus den Alpen hatte also die Germanisten auf Norberts Spur gebracht. Nur dünne Geschichten werden von Jury-Mitgliedern und Germanisten gelesen. Der Anfangssatz muss wie eine Granate einschlagen, ob es nun ein Apfelgarten in Amras ist oder eben ein Norbert, den sie abholen.

Die Musik wurde leise, weil er eingetreten war. Er ist noch immer nicht Norbert, auf den ganz Graz und die Literaturgeschichte warten, sondern der Tierarzt. Er geht durch die Küche und beachtet die liebevoll erzählten Möbel nicht. Er zieht eine Tierarztspritze auf, die die Germanisten erschaudern lässt. Viele fühlen sich an Kitsch erinnert, aber sie wissen, dass hinter jedem Stadtschreiber eine Portion Kitsch stehen muss.

Die stummen Männer vom Hotel bringen Norbert in die Küche herein. Wir wissen nicht, was der Tierarzt mit Norbert gemacht hat, aber alle vorher erzählten Sätze bekommen plötzlich einen ernsthaften Sinn. Auch der kleinste Satz hat jetzt eine große Wirkung, weil Norbert ja bewusstlos ist. In germanistischer Trance sagt Norbert Sätze, die gut in seiner nächsten Erzählung stehen könnten. „Ich bin nicht Einer, ich bin Zweier.“ Ein Germanist murmelt etwas von Gantenbein. Er hat in den fünfziger Jahren eine kleine Seminararbeit über Gantenbein geschrieben und fühlt sich plötzlich jung. Was immer Norbert sagt, er wird natürlich als Einer in die Literaturgeschichte eingehen, auch wenn er jetzt in seiner Stadtschreibertrance von einem Zweier spricht.
Meint er die Zweierlinie in Graz? Ein Zweicentstück aus Palo Alto, CA?
Der Tierarzt kontrolliert, dass der starke Unterkiefer trotz der bedeutungsvollen Sätze nicht alles zermalmt. Während die stummen Männer vom Hotel Norbert transportfähig zusammenschnüren, damit er gut nach Graz kommt, sagt er weitere Sätze.

„Ich bin sehr bescheiden. Ich werde keine Bilder aus dem Johanneum haben. Ich werde die Stadtschreiberwohnung kahl lassen, wie ich bin. Ich werde nur selten ein Interview geben. Aber wenn ich etwas sage, werde ich über dieses Scheißtirol herfallen. Kaum schaut ein literarisches Flämmchen vom Balkon des elterlichen Hotels herunter, wird es im Scheißtirol schon ausgetreten. Das ist pervers.“

In seiner Trance zitiert Norbert Sätze aus den Salzburger Nachrichten, die später meinen, Norbert habe alles so gesagt.
Als man Norbert in den Überstellungswagen nach Graz schiebt, beginnt irgendwo, weit entfernt, ein Hund zu bellen. So leise, dass man es nur als Germanist hört. Als gleich darauf der Bus ankommt, schaukelnd in den unregelmäßigen Rinnen, weil Fahrer und Schriftsteller noch immer nichts dazugelernt haben, als er vor dem Hotel hält und durch die Hintertür eine Schar Kinder entlässt, die Hauptschüler vom Nachbardorf vielleicht, hat der Einheimische auf die Wanduhr geblickt, und es ist acht nach eins gewesen. Plötzlich, wie ein Aufschrei, beginnt das Schreibmaschinengeknatter wieder, es muss also doch einen Zweier geben, der zu tippen beginnt, kaum dass man Einer fortgebracht hat.

Und die Germanisten, drei sind es, gehen im Kreis hin und her, dort, rotglänzend die Germanistenköpfe im Mittagslicht, drehen unermüdlich ihre Wortkreise im Schnee, den sie nur aus der Literatur kennen, und jagen immer von neuem dieselbe Erzähltreppe, fünf Kapitel hinauf und auf der Stadtschreiberseite mit einem Sprung herunter, dass die Federn der Sprache mit einem quietschenden Geräusch tief einknicken.


Norbert Gstrein
Einer. Erzählung. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1988.

Norbert Gstrein:
Der zweite Jakob. Roman, Hanser. 2021

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar