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Helmuth Schönauer
INNS LOCH
Short Story

Am Morgen reiben wir uns den Frächterhonig aus den Augen. Was so poetisch klingt, ist in Wirklichkeit die harte Maßnahme zum Überleben, wenn der Wind ungünstig steht. Hier im Westen ist zwar das Wasser des Inns besser als im Osten, weil die Patrioten noch nicht hineingemacht haben. Dafür liegt der Stadtteil schnurgerade in jeder der vier Windrichtungen, die ungeachtet des Gebirges voll aufdrehen. Selbst der Fallwind von der Nordkette schleudert Gesteinsbrösel in die Tiefe, nachdem er zuvor die Frau Hitt niedergemacht und abgeschliffen hat.

Wir reiben uns die Augen, die sich während des Schlafs vom Feinstaub der Nacht entzündet haben, den die Frächter auf der Autobahn absetzen. Der Honig aus braunem Material klebt uns die Sehkraft zusammen, sodass wir keine Zusammenhänge mehr erkennen und den Transportbossen hilflos ausgesetzt sind. Ein echter Truck-Man hat ein Leben lang gelernt, Kilometer niederzumachen. Daher wirst du mit ihm auch in keinen demokratischen Diskurs treten können. Du musst in diesem Land entweder leiden oder zumindest eine stumpfe Waffe in die Hand nehmen wie einer von diesen Schützen, die genauso ratlos sind, wenn sie sich die Augen reiben.

Gerade die Alten verlieren durch den Feinstaub, dem sie seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, Sehkraft und Lebenslust. Sie wackeln mit ihren geschwächten Hüften auf den Balkon und wischen die Staubschicht des Dunkels beiseite. Viele erkranken neben dem grauen oder grünen Star auch am braunen, wie die Halberblindung genannt wird, die auf das Konto der Transportwirtschaft geht.

Das Gehör ist bei einem Tiroler ohnehin beim Teufel, wenn er in die Geschlechtsreife der Altersweisheit eintritt. Wem der Lärm des Alltags nicht das Trommelfell zerstört hat, der hat einen Gehöreinriss von den Böllerschüssen, die man sich als Zwangspatriot zwischen Fronleichnam und Silvester Woche für Woche anhören muss.

Glücklich ist, wer im Parterre in Augenhöhe des Straßenlärms wohnt. Er kann sofort auf stur schalten, wenn er ins Freie tritt und muss nicht erst lästige Stiegenhäuser als Hörfilter überwinden. In den oberen Geschossen wird mehr gestritten als im Parterre, weshalb auch die Femizide mit der Anzahl der Stockwerke zunehmen. Viele Männer halten in ihrer Hörermüdung die Partnerin für eine akustische Störung, während es in Wirklichkeit das ganze Land ist, das ungefiltert auf die Menschen einstürzt. Kein Stockwerk bleibt verschont, auch wenn in Bachelorarbeiten feine Geräuschunterschiede zwischen dem Parterre und den oberen Etagen festgestellt werden. Aber das ermüdete Gehör vermag mit der Zeit nicht mehr zwischen der Partnerin und dem Transit zu unterscheiden.

Wir stürmen an solchen Tagen ziemlich abgestumpft ins Freie und machen uns auf den Weg zum Höttinger Bahnhof, wo wir uns illegal ein Getränk genehmigen, das möglichst geruchlos sein soll, damit wir nicht erschnüffelt werden.

Neben dem Bahnhof nämlich klebt an einer Stützmauer ein Fertigteil-Gartenhaus, das den sagenhaften Namen INNS LOCH trägt, getrennt geschrieben wie das Logo der Stadt, die damit weltweit Aufsehen erregt hat. Der Name geht auf das Kitzloch zurück, das an seinem Ursprungsort in Ischgl momentan nicht aufgesperrt werden darf. Aber der Fertigteilwirt von Hötting hat bei beiden eine Lizenz genommen, bei Ischgl und bei der Stadt, und somit den sagenhaften Mythos vom INNS LOCH auf den Weg gebracht.

Wir sind heute zu viert und vollendet im Ruhestand. Da eine Frau dabei ist, reden wir Männer sehr keusch und gepflegt, obwohl wir alle Gesetzesbrecher sind, wenn wir den Lockdown umgehen.

Der Wirt schützt sich, indem er seinen wahren Namen nicht verrät und sich Du-Hallo nennen lässt. Wir anderen brauchen keinen Namen, denn wir sprechen uns nicht gezielt an, sondern geben Floskeln zum Besten, die jeder nach Gutdünken auf sich münzen kann oder auch nicht.

Die Außenwelt ist videoüberwacht wie der Bahnhof, der, ein wenig erhöht, die Passagieren schon von weitem die anrückende Schnellbahn erkennen lässt. Wir brauchen keine Schnellbahn, unsere Angespanntheit gilt der Höttinger Streife, die im Auftrag des Gesundheitsamtes alles kontrolliert, was sich bewegt.

Deshalb bewegen wir uns auch nicht, wenn sie das Viertel abfliegen. Die Billigdrohne ist bloß mit einem Bewegungsmelder ausgestattet. In einem Anfall von Witzigkeit erklärt jemand, dass sie ursprünglich zur Kontrolle der Magistratsbeamten gekauft wurde.

Aber wir lachen nicht, weil wir sonst über alles lachen müssten. Wenn die Streife zu nahe rückt, warnt uns der Du-Hallo, und wir müssen uns auf den Boden legen, den er zu diesem Zweck mit einem alten Bettvorleger ausgestattet hat.

Ok, jetzt liegen wir am Boden, weil am Bildschirm die Streife zu sehen ist. Wir halten den Atem an, weil der regionale Einheitssender eingeschaltet ist. Dieser berichtet von einem Auto, das kopfüber auf der Autobahn liegt und noch nicht geborgen wurde. Die müssen jetzt kopfüber im Auto hängen, während wir kommod auf unseren Bäuchen liegen, jeder mit einem Getränk vor sich. Im düsteren Licht scannen wir das jeweils am nächsten liegende Gesicht ab. Wenn man zu Warzen Trüffel sagt, wirkt ein Antlitz edel. Tatsächlich ist das Licht ungünstig, sodass die kleinen Trüffelerhebungen im alten Käsegesicht schräg hervorstechen.

Du-Hallo gibt Entwarnung. Zwei von uns setzen sich wieder an den Tisch, während ein Mann und eine Frau noch schnell unter dem Tisch etwas zu erledigen haben. Wir Oben-Sitzenden hören einen Seufzer und tatsächlich das Wort „quarantäne-geil“.

Um von der holprigen Erlebnislage abzulenken,reden wir über die Blockade von Leningrad. Die Nazis haben seinerzeit die Stadt 872 Tage lang belagert und den Hungertod der Hälfte der Bevölkerung herbeigeführt. Wir sind erst am dreihundertsten Tag, sagt mein Gegenüber und wundert sich, warum die Eingeschlossenen nicht einfach demonstriert haben, so wie es jetzt die Virus-Leugner mit der Quarantäne tun. Hä? Die Nazis wären abgezogen wie ein Virus, sage ich dir!

In der Shortstory gibt es keine Pause, auch wenn darin nichts los ist.

Der Bibliothekar im Ruhestand, der sich diese Kurzgeschichte Wort für Wort abgerungen hat, hat mit seinen Kindern ein Arrangement getroffen. Solange er einmal im Monat eine Kurzgeschichte abliefert, gilt er als „noch bei Sinnen“, sodass er selbständig wohnen darf. Aber wenn die Geschichte einmal zu dünn wird, wird es auch für den Pensionisten eng. Das Altersheim ist nur eine fehlende Kurzgeschichte weit entfernt.

Die Kids arbeiten in systemrelevanten Berufen und kennen somit den allgemeinen Zustand der Bevölkerung, die schon ziemlich ausgebrannt wirkt. Jetzt, wo alle in Kurzarbeit sind, ist die Kurzgeschichte das Richtige, denken sich alle, die gezwungenermaßen mit Literatur zu tun haben. Das Damoklesschwert des Literaturbetriebs zieht schon wieder auf. Wenn die Kurzarbeit vorbei ist, müssen alle wieder Romane schreiben.

Hoffentlich gilt das nicht für mich, sondern nur für die subventionierten Dichter, über welche die Landesrätin soeben im Mittagsjournal geschwärmt hat. „Wenn wir die Dichter subventionieren, schreiben sie was, ihnen ist geholfen, und uns auch!“
Das bezweifelt der Bibliothekar in Ruhe. Mit einem subventionierten Roman ist noch nie jemandem geholfen gewesen.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    spitzfindig, satirisch und humorvoll wie immer, lieber helmuth. schön, dass du durchgehalten hast, deinem motto gemäß!

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