Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer
Inka Tirol
Stichpunkt

Wieder einmal geht ein Bild als Ikone um die Welt. Ein japanischer Boxlehrer steht auf einer Anhöhe von Machu Picchu und weint. Seine Tränen fließen die menschenleeren Terrassen hinab. Fast ein Jahr lang war er in Peru Opfer einer Quarantäne. Jetzt durfte er als Belohnung ganz allein die Ruinenstadt der Inka besuchen.

Das Foto bewirkt vordergründig, dass sich überall auf der Welt Menschen zu Boxlehrern ausbilden lassen, damit sie später ins menschenleere Inka-Heiligtum dürfen. Im Hintergrund aber läuft bei vielen im Hirn eine Fabel ab, dass auch unsere Gegenwart dereinst ein Machu Picchu sein könnte.

Und in der Tat, von jeder x-beliebigen Anhöhe aus lässt sich der Verfall erahnen, welcher dereinst über dem Inkareich der Tiroler liegen wird. Seine Bewohner haben ein hervorragendes Bewässerungssystem geschaffen und anmutige Bergteiche angelegt, von denen aus sie im Sommer Waldbrände löschen und im Winter Pisten beschneien konnten. Alles drehte sich ums Schifahren und wurde dem Götzen Outdoor geopfert.

Die Einheitszeitung nannten sie „Touristisches Tagblatt“, und dieses brachte Tag und Nacht Nächtigungszahlen. Auch wenn jemand gestorben war, gab man noch die Sterne seines Hotels auf die Parte, um zu zeigen, wie potent er zu Lebzeiten gewesen war. Der König war ein Landeshauptmann, der nominell für alle Tiroler da sein sollte, in Wirklichkeit aber Landesrat für Tourismus war. Berühmt sind seine Sager: Bleibts zu Hause, damit die Gäste kommen können! Lasst euch impfen, damit die Touristen eine saubere Bevölkerung vorfinden!

Unterstützt wurden solche Parolen vom öffentlich rechtlichen Einheitsmedium, das in den Nachrichten über die neuesten Auslastungszahlen der Betten und die Staus an den Kreisverkehren brachte, in der Kultur aber durchwegs religiöse Stücke des Einheitsautors spielte: Die Beichte, Krach im Hause Gott und die Piefke-Saga.

Alle, die nichts mit dem Tourismus zu tun hatten, waren schon längst abgesiedelt worden, indem man ihnen in den Tälern kein Brot und keine Wohnung zur Verfügung stellte. Denn nur die vollkommene Touristisierung konnte die sogenannte Herdenimmunität auslösen, das heißt, niemand durfte mehr etwas gegen den Tourismus sagen oder Bedenken gegen Outdoor anmelden.

Selbst in der Hauptstadt, wo es auch Beamte und Studenten gab, wurde die Stimmung flächendeckend mit Schneekanonen niedergestreckt. Als der Flughafen an den Wochenenden die Bevölkerung mit fünfhundert Landungen am Stück terrorisierte, setzte es vom Inka-König ein Diskussionsverbot. Erst als die ersten Touristen nicht mehr in die Innenstadt kamen, weil sie während ihres Besuchs kein Wort mehr im Freien reden konnten, durfte das Problem zumindest benannt werden. Für die Senioren freilich, die vor dem Sterben noch etwas Ruhe wünschten, wurde ein ehemaliger Flughafendirektor in den Gemeinderat entsandt, damit dort keine falschen Diskussionen über Lärm aufkamen.

Der Tiroler Inka-König war freilich auch ein Getriebener. Sein Personal musste er streng nach den Kriterien der Seilbahnwirtschaft ausrichten. Seine Berater kamen alle aus der Hotellerie. Dass einige Mitkönige dabei eine erbärmliche Figur machten, war allen egal, denn wichtig war nur, die Schi-Zeremonie in Gang zu halten. Woran die Tiroler Inkas schließlich gestorben sind, ist nicht bekannt. Die Seuche haben sie angeblich mit einer Impfung in den Griff gekriegt. Es wird wohl der Mangel an Überlebensintelligenz gewesen sein, der das Freiluftreich zugrunde gehen ließ.


Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar