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Helmuth Schönauer
In Bewegung
Stichpunkt

Achtung Tabuthema! Bitte liebe Leserschaft, brechen Sie die Lektüre ab, wenn Sie dieser kostenlos zur Verfügung gestellte Text unangenehm berührt. Es soll kein Schaden an Ihrem Weltbild entstehen. Zum Unterschied von Nachrichten, die im öffentlich rechtlichen Bereich durch Rundfunkgebühren zwangsweise an Ihnen vollstreckt werden, entsteht Ihnen hier auch finanziell kein Schaden.

Nichts macht gelernte Österreicher so fertig wie Themen, die nicht weggehen. Von der Schule auf lernt man, dass man schwierige Sachen nicht entscheiden muss, wenn man sie aussitzt. Aus der Bürokratie-Forschung wissen wir, dass nur jene Archivare eine Chance auf eine Lebensanstellung haben, die bei der Pensionierung imstande sind, einen Akt so unversehrt an den Nachfolger zu übergeben, wie sie ihn vor Jahrzehnten übernommen haben.

Ein durchgehendes Thema betrifft den Einlass und Aufenthalt in einem Land. Seit Migration und Asylwesen europaweit vermischt worden sind, gibt es ständig geistige Unruhe. Wer darf kommen? Wer darf bleiben? Wie viel Platz gibt es? Wie viel Angst ist um die Wege?

Jetzt, wo das große Virenthema allmählich aus dem Tagesgeschehen rückt, wird der Blick wieder frei auf die täglich anlandenden Boote, Ertrunkenen im Mittelmeer, im Letten Bosniens Einzementierten und auf Lesbos Dahinvegetierenden.

Etwa siebzig Prozent der Wahlberechtigten entledigen sich dieser Bilder, indem sie egal was wählen, Hauptsache das Thema rückt nicht näher. Diese Mehrheit der österreichischen Seele ist sehr stabil und lässt sich auch durch keine Untat der jeweiligen Regierung von ihrem Aussitzkurs abhalten.

Über dieser manifesten Haltung schwebt immer noch das Jahr 2015, das sich vor allem als bedrohliche Menschenmasse am Bildschirm eingeprägt hat. Manche hatten jenseits der Fernseherfahrung direkten Kontakt mit den Migranten, die sagen, dass es nicht so dicht gewesen sei.

Die Bilder wirken jedenfalls jahrelang nach, Hoffnung auf Veränderung besteht in Österreich dadurch, dass von Wahl zu Wahl die größten Aussitzer aus Altersgründen ihre Meinung aufgeben, indem sie sich hinlegen und sterben. Die nachrückenden Wahljahrgänge schreiten jedoch nicht so heftig zur Wahl, wie es die Verstorbenen getan hätten, sodass es wohl noch eine Weile dauert, bis sich zum Thema Migrationskultur etwas ändert.

Um Begriffe wie Welle oder Masse etwas aufzuhellen, eine recht sinnliche Zahl aus Tirol vom Jahre 2019: im Schnitt lassen sich täglich etwa zehn Personen neu im Lande nieder. Die Gründe sind mannigfaltig: Geburt, Alterswohnsitz, Arbeit, Ausbildung, Migration.

Diese zehn Personen sind ein Zuwachs jenseits der üblichen biologischen Fluktuation. Zehn Personen am Tag bedeutet, es gibt täglich mindestens um zwei Autos und den nötigen Bau von drei Wohnungen mehr zum Aussitzen. Auch wenn mittelfristig niemand eine praktikable Lösung hat, so ist klar, dass in den nächsten Jahren immer Parteien gewählt werden, die das Thema möglichst weit vom Land entfernt köcheln lassen. Einem Glossisten, der zumindest in Gedanken auf Lösungsvorschläge aus sein will, bleibt wegen der globalen Zusammenhänge ebenfalls nur die große Vertagung des Themas. Es lohnt sich aber ein Blick auf jene, die „irgendwas tun“ wollen, um in Bewegung zu bleiben.

Diese stehen oft fassungslos einer stummen Mehrheit gegenüber, die durch nichts in Bewegung zu bringen ist. So entsteht allgemeine Ungeduld, die sich oft in schlechtem Verbal-Management äußert. Die sogenannten Gegner werden herablassend verbal verurteilt und der Unmoral bezichtigt. Die eine Gruppe wird manchmal verkürzend als „Asylbefürworter“ bezeichnet. Sie ist aber bei weitem nicht so homogen, sowie die andere Gruppe nicht einfach aus politisch entgleisten Rechten besteht.

Grob verkürzt unterscheiden wir mehrere Intensitätsstufen der Befürworter:

– Resolutionisten:
Sie schreiben regelmäßig Petitionen an irgendwen, gehen regelmäßig demonstrieren, tragen auf ihren Schildern allgemeine Formulierungen vor sich her, so dass letztlich jeder angesprochen ist. Wenn man sie bittet, eine konkrete Maßnahme zu formulieren, also etwa ein bestimmtes Haus so lange zu besetzen, bis darin konkrete Flüchtlinge wohnen können, kneifen sie und verweisen auf den Dienstweg. Ihre Petitionen werden von der Literaturwissenschaft wie Gedichte behandelt, schön, aber wirkungslos. Das Unterschreiben einer Petition befriedigt die Petenten jedoch ungemein, weil darin körperliche Betätigung und geistige Impulsivität harmonisch zusammentreffen.

– Feiertagshumanisten:
Wenn der Bischof seine Weihnachts- und Osterpredigten aus verschüttgegangenen Wörtern zusammenbeutelt, folgt daraus regelmäßig die Aufforderung, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Das einzig Konkrete ist dabei ein Bischofsbesuch in einem griechischen Lager, der pressewirksam Betroffenheit auslöst. Ein paar Stunden später verleiht derselbe Bischof dann an fromme Menschen die sogenannte Canisius-Medaille, ohne darauf hinzuweisen, dass die radikale Theologie des Canisius inklusive Schreibtischarbeit für Hexenverfolgungen zu bedrückenden Migrationsströmen geführt hat. Bei der Canisius-Medaille scheint es sich also um eine Ehrung für gelungene Säuberungen zu handeln, wenn man den Geist des Diözesanpatrons richtig deutet.

– Selbsthilfegruppen:
Die arbeiten still und ohne Mucks an ihrer Sache, jeder betreut im Sinne einer Patenschaft seine Asyl-Schar, möglichst unauffällig, damit die Betroffenen aus der „Schusslinie“ der Politik herausgehalten werden können. Diese Gruppe befreit im Sinne von Untergrund-Humanität wenigstens ein paar Menschen aus prekären Verhältnissen in Lagern und hinter der Grenze, und hofft, dass diese Menschen wenigstens ihnen selbst jenes Glück bringt, das durch Hinwendung zu Einheimischen nicht zu erreichen ist. Zu diesem Glück gehört es auch, dass man mit seiner Hilfe nicht prahlt und schon gar nicht eine Medaille dafür kriegt.

– Verbündete und Geheimfreunde:
Sie versuchen, sowohl den farblosen wie auch den aufgeheizten Diskurs auf einer vernünftigen Temperatur zu halten und im Sinne einer klassischen Erwachsenenbildung die Vorteile einer klugen Asylpolitik den Mit-Staatsbürgern kundzutun. Zu diesem Diskurs gehört auch das Gespräch mit den Betroffenen, denen man es nach einer solchen Freundschaftskur gar nicht mehr anmerkt, dass sie einmal fremd im eigenen Land gewesen sind.

– Theoretiker und Drehbuchschreiber:
Sie durchforsten die Kultur nach Bildern, die das Wesen des Menschen als etwas Aufregendes und Buntes darstellen nach der Melodie „wir sind nur Gast auf Erden, und wandern ohne Ruh“, sie drehen öffentlich-rechtliche Filme mit gelungener „Vorstadtweiberintegration“ und bevorzugen Hauptdarsteller aus möglichst fernen Ländern. Sie halten sich für Meinungsmacher oder gar für Alpen-Intellektuelle, wie steile Geister hierzulande genannt werden. Sie versuchen, den humanen Ruf Österreichs in der Geschichte zu retten. Wenn schon in der Praxis die Migrationskultur gescheitert ist, so soll sie wenigstens unversehrt in die Archive kommen, damit die Nachfahren ein gutes Bild von der lädierten Gegenwart kriegen.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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