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Helmuth Schönauer
Die Welt als Couch
Stichpunkt

Früher hatten die Erwachsenen einen Huscher, heute haben ihn die Kinder! – Dieser wissenschaftlich keinesfalls mit Daten unterlegte Seufzer weist auf das Phänomen hin, dass zu manchen Zeiten ganze Bevölkerungsteile aus heiterem Himmel heraus zuerst psychisch erkranken und später geheilt werden.

In den 50ern spielten die Kinder oft völlig unbeschwert im Garten oder auf der Straße, ehe sie dann zur Ruhe angehalten wurden, weil ein Onkel schwer verwundet aus dem Krieg zu Besuch kam und sich kurz niederlegen musste.

Anschließend ging man meist in ein Sanatorium, wo die kaputten „Lungenflügler“ in Scharen vor der Nachmittagssonne ausgebreitet waren. Auch hier musste man als Kind still sein, um den Heilungsprozess nicht zu unterbrechen.

Abends kam man dann nach Hause und traf im Treppenhaus allenthalben auf gut eingeölte Menschen, die der harten Knochenarbeit wieder einmal für einen Tag entkommen waren und sich jetzt über die Bierkiste hermachten, die schon am Vormittag von einem Kriegskollegen mit dem Sackroller angeliefert worden war.

Das Wochenende war regelmäßig verplant mit Suiziden. Irgendeinen im Bekanntenkreis hat es regelmäßig erwischt. Wir gingen dann an jene Stelle, wo er sich in der Sillschlucht vom Felsen geworfen, am anliegenden Damm der Brennerbahn vor einen talwärts fahrenden Güterzug gestürzt oder an einer vom Krieg übriggebliebenen Schnellpappel in der Nähe des damals neuen Alt-Tivolistadions aufgehängt hatte.

Obwohl wir wie in einem Thomas-Bernhard-Roman über diese bedauerlichen Kreaturen sprachen, kam niemand auf die Idee, dass hier eine Depression im Spiel war.

Heute schütteln die Psychologen den Kopf und bedauern, dass sie nicht in den 50ern studiert haben. Damals habe es noch handfesten Stoff zum Forschen gegeben. Aber statt die Depressionen zu verorten, hat man damals das Ich-Organ gesucht. Und in einer Welt, in der eine ganze Epoche verwischt und verdrängt werden musste, gab es keinen Platz für die psychischen Kümmernisse des Individuums.

Heute wimmelt es nur so von Psychologen, sodass manchmal der Eindruck entsteht, die Welt sei so psychotisch, weil es so viele Fachleute dafür gibt. Neuester Schrei ist die Kinderdepression, die entweder aus Gründen des Klimauntergangs, der Pandemie oder der Sinnlosigkeit von Konsum ganze Kohorten von Jugendlichen und Kids betrifft.

Berührend sind jene Briefe, wo angeblich eine Schulklasse an eine Partnerklasse in Afrika im Stil von Sternsingern geschrieben hat: Bitte liebe Freundinnen und Freunde, kommt nicht mehr nach Europa. Es ist hier nichts mehr los, der Konsum bringt nichts, wir haben selber keine Wohnungen, niemand kümmert sich um uns, wir müssen einsam im Klimawandel sterben so wie ihr, wenn ihr bei euch zu Hause bleibt.

Und andere schreiben: Warum noch flüchten, wenn man dann ohnehin in einer kleinen Wohnung mit einem kaputten Tablet eingesperrt wird?

Die Depression dieser Kids rührt die Alten, die vor allem verärgert sind, dass es nichts an psychologischer Hilfe auf Krankenschein gibt. Was nützt mir eine Gratisimpfung, wenn ich dann zusehen muss, wie die Kinder an einer Depression darben, die ich mir nicht leisten kann?

Auch das Spiel der Weltverbesserung funktioniert nicht mehr. Die nächste Generation wird es schlechter haben als die gegenwärtige, und das Schlimme ist: SIE kriegen die Depressionen, nicht wir, die wir von klein auf darauf vorbereitet wären.

Solange es keine Impfung gegen die Depression gibt, wird uns dieses dunkle Monster fressen, das sich über unsere Lebenspläne gelegt hat.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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