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Helmuth Schönauer
Die Am-besten-zu-vergessen-Liste
Stichpunkt

Jahrzehntelang ist der Autor dieser Zeilen mit diversen Literaturdefinitionen über Land in die Büchereien gefahren und hat zu erklären versucht, dass kein Weg daran vorbeiführt, Literatur selbst zu lesen, wenn man sich auf sie einlassen will.

Nun aber tut der in allen Belangen Konsum-affine Leser alles, um nicht selbst lesen zu müssen, denn das ist tatsächlich anstrengend.

Daher sind im Literaturbetrieb viele Irrtümer verbreitet. In der Bildungsszene spricht man von Literatur, wenn man das Hantieren mit Büchern und anderen Textträgern meint. In der Veranstaltungsszene und im Buchhandel spricht man davon, wenn es um das Geschäft mit der Literatur geht.

Dabei gibt es so schöne Definitionen darüber, was Literatur ist.
a) Literatur ist das, was die Gesellschaft für Literatur hält.
b) Literatur ist das, was die Gerichte als Literatur feststellen.
c) Literatur ist das Getue um den Text. (Schönauer)

Ein ideales Hilfsmittel, um das Lesen zu umgehen und dennoch darüber reden zu können, ist das Aufsuchen von Bestenlisten. Solche Listen wirken auf Anhieb vertraut. Die meisten kennen sie aus der Formel 1 oder aus Kitzbühel. Während man dort allerdings mit bloßem Zuschauen das Auslangen findet, ist man bei literarischen Bestenlisten auf die Vertrauenswürdigkeit sogenannter Gewährsleute angewiesen.

Eine, zumindest was das Datum des Erscheinens betrifft, verlässliche Bestenliste stammt vom ORF. Der öffentlich rechtliche Funk nimmt die Listen allmonatlich mit Handkuss und stellt sie ins Netz, denn die Aktion läuft unter dem ominösen Kapitel „Bildungsauftrag“.

Für den normalen Leser wirkt das Ranking wie die Tabelle von Geisterspielen, die niemand gesehen hat. Es ist also völlig belanglos, welches Buch auf welchem Platz liegt. Hauptsache, es ist auf der Liste.

Eine Liste nämlich ist das ideale Werbemittel für Bücher. Man hört als Konsument den Namen des Verlages und den Titel, manchmal entsteht auch eine heroische Bindung zum Namen der Autoren, von denen man Werke sammeln kann, bis beim Sterben der Schuber des Gesamtwerkes voll ist.

Die ORF-Gewährsleute sind transparent auf einer eigenen Liste aufgeführt, und es stellt sich heraus, dass es alles Fachleute für den Literaturbetrieb sind. Es steht ihnen frei, wie sie entscheiden. Aber wenn sie nicht stromlinienförmig zu ihrem Ergebnis kommen, fallen sie aus der Liste oder werden von den Verlagen nicht mehr mit der Zusendung von Werbematerial bedacht.

Die Gattungen des Literaturbetriebs sind anders aufgezäumt als jene der historischen Literaturbetrachtung, bei der es um Klassiker, Romane oder Krimis gegangen ist. Die moderne Einteilung heißt Event-Literatur, Literaturhaus-Literatur, Germanisten-Literatur, Oberstufen-Literatur, Pensionisten-Literatur. Alle diese Felder haben ihr Budget und ernähren solitäre Fachkräfte, die wie im Falle der Literaturhäuser zu neunzig Prozent dafür arbeiten, dass sie im Angestelltenverhältnis verbleiben.

Um die Leser oder gar um die Autoren geht es bei diesem Zweig der Buchstabenindustrie schon lange nicht mehr. Es entsteht ein innig verfilzter Clan von Literaturbetreibern, die sich gegenseitig Mut zusprechen und manchmal auch einen kleinen Auftrag zuschanzen. So wird ein Buchhändler alles tun, um dem ORF zu gefallen, damit dieser bei der nächsten Veranstaltung einen kleinen Beitrag über die kleine Buchhandlung gestaltet. Das Endziel dieser Verfilzung zeigt in Tirol übrigens der „Felixismus“. Dabei wird ein ORF-Redakteur extra dafür abgestellt, um den hauseigenen Dichter jahraus jahrein zu betreuen, sei es bei Passionsspielen, Krimi-Rallyes, Vorleseabenden oder Festspielen.

Die Bestenliste dient in so einem Fall dazu, bei der potentiellen Kundschaft gewisse Namen im Bewusstsein zu halten, die man bei nächster Gelegenheit senden wird. Denn auch der ORF hat ja nicht das Ziel, etwas Vernünftiges für sein Publikum zu produzieren, sondern es geht ihm ausschließlich um Quoten und die Sicherung des Alleinstellungsmerkmals als öffentlich rechtlicher Unternehmer.

Die Bestenliste macht Monat für Monat das Publikum damit vertraut, dass es nach wie vor einen Literaturbetrieb gibt, zu dem man Buch sagt. Aber der einzelne Kunde soll sich keine Sorge machen, es ist alles in guten Händen. Die Listen sind voll. Alles ist in Spannung, zumindest was die Akkus der Endlesegeräte betrifft. Und die Fachleute generieren verlässlich Namen und nicken sie ab. Hauptsache, sie bleiben selbst auf der Liste der Juroren und müssen nichts lesen.

In den Büchereien habe ich übrigens immer wieder sogenannte Leser gefragt, ob sie sich vorstellen können, für sich selbst eine Bestenliste zu erstellen. Die Antwort war ernüchternd: „Ich weiß ja nicht, was gut ist und auf die Bestenliste soll.“

Machen wir uns nichts vor. Der gegenwärtige Literaturbetrieb ist eine einzige Abnick-Maschine geworden, bei der erstaunlich viele in Kurzarbeit tätig sind.


Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. dr.eibel

    ja!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! ABER WIR SCHREIBEN WEITER

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