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Helmuth Schönauer
bespricht Norbert Gstreins „Der zweite Jakob"

„Als wüsste ich nicht, dass sich hinter dem Wort manchmal nur ein anderer Name für die Wirklichkeit verbarg.“ (234)

Norbert Gstrein ist zu seinem Sechziger in einer literarischen Welt angelangt, wo auch die Rezensionstechnik neues Terrain beschreiten muss, um ihm gerecht zu werden. Auf einen noch halbwegs überschaubaren Plot ist nämlich ein Wahrscheinlichkeitsspiel darübergelegt, das selbst den griffigsten Handlungsstrang jäh sprengt.

Die Skizze von einem Plot geht in etwa so: Jakob hat die Erbschaft einer Hoteldynastie in den Tiroler Alpen dazu verwendet, Schauspieler zu werden. Nach vielen Provinzauftritten, unter anderem in Innsbruck, schafft er es, in einem B-Movie einen Frauenmörder zu spielen. An der mexikanischen Grenze entgleist der Filmdreh und Jakob und eine Filmpartnerin verursachen einen tödlichen Verkehrsunfall. Sie lassen das Opfer, eine mexikanische Frau, liegen und sterben – wie im Film.

Das Geschehnis ohne Drehbuch bringt den Schauspieler letztlich um seine Identität. Er ist hin- und hergerissen zwischen den Kapitelüberschriften des Romans: „Sag ihnen, wer du bist“, und „Du bist dieser hier“.

Der eigentliche Plot besteht darin, dass ihn der Autor Norbert Gstrein anhand seines Helden Jakob zusammen mit dem Leser erarbeiten will. Dabei entsteht eine Spielvorgabe wie bei einem Tennismatch. Der Autor serviert und lädt zum Mitspiel ein. Wenn man als Leser aus der Reserve gelockt ist, schlägt er verlässlich den Punkt, weil man selbst in die Irre gerannt ist. Und nebenbei serviert er ein Ass nach dem anderen, sodass man das Spiel nur gewinnen kann, wenn man als Leser alles offen hält, was hier serviert wird.

Eine Leser-ähnliche Korrekturposition nehmen im Roman die Tochter Luzie und der Biograph Pflegerl ein. Die Tochter glaubt dem Vater kein Wort, außer dass er Schauspieler ist, und der Biograph glaubt, dass Jakobs Schauspielerei kongruent sein wahres Leben ist.

So kann zwischendurch alles verkürzt oder zu einer Unterstory aufgeblasen werden: „Drei mal Frauen, drei mal Frauenmörder!“ (181) Und in der Tat lässt sich in der Schauspielerei alles mit allem vergleichen, denn es kommt immer ein gewisser Sinn heraus. So lässt sich Texas bestens durch Tirol ersetzen, und Washington durch Wien. (193) Es sind ja nur Begriffe, die eine Geschichte evozieren.

Wenn nichts mehr eindeutig ist, helfen auch keine Einteilungen in Genres mehr. So ist „Der zweite Jakob“ ein Künstlerroman, worin der Held scheitert, weil er seine eigene Identität verliert. Ein Narcos-Roman von der Mexikanischen Grenze, wobei die Erzähl-Härte eines Don Winslow zum Einsatz kommt. Ein politischer Boulevard-Roman, wo ein betrunken gemachtes Foto mit einem späteren Präsidenten eine Karriere zerstören kann. Ein Heimatroman, wo das eingescheffelte Geld aus dem Tourismus nicht mehr für eine abgeklärte Lebensführung reicht.

Ein Germanistenroman sowieso, wo es zum Dritten Mann eine dritte Frau gibt und der Realismus eine fiktionale Karriere nach sich ziehen kann. Verkettet sind diese angedeuteten Genres in perfektem Sarkasmus, der ab und zu die mildere Form der Satire wählt. Die Episoden implodieren an der Sollbruchstelle. So wird etwa das brünstige Verhalten alpiner Touristiker vorerst mit einer gewissen Altersmilde angegangen, ehe dann durch einen Ausdruck wie „Stoßtrupp-Sex“ (141) die pure Verzweiflung dieser überzüchteten Hotelhengste zum Ausdruck kommt.

Auch das sauber zu Beginn, am Ende und in der harmonischen Mitte angesprochene Motiv des sechzigsten Geburtstags wird als Groteske vollendet. Natürlich will niemand sechzig werden, heißt es zu Beginn, ehe beim Aufräumen des Lebens eine halb so alte Frau wie der Held sagt: Ich ficke dich, bis du sechzig bist. (399) Und am Schluss gibt es im Heimatdorf gar einen Showdown zum Sechziger. Eine Statue wird enthüllt, die freilich einen asiatischen Augenstand hat, weil sie in China gefertigt worden ist. Die Festgäste aus der Provinzhauptstadt müssen die Anreise aufgeben, weil ein Felssturz die Zeremonie überschattet. Und der erste Jakob, der Onkel des Helden, zeigt sich als geduckter Schemen in einem Kellertrakt.

Zwischen den Auftritten, Bühnen, Inszenierungen und Lebensbeichten zerreibt es die robusteste Seele. Sogar Jakob selbst schüttelt zwischendurch den Kopf, wenn etwas wie ausgedacht erscheint, wobei es einfach passiert. Etwa dass er zweimal eine Frau mit dem gleichen Namen kennen und lieben lernt. Wer ist jetzt das Original für die echte Liebe?

Diese Verunsicherung des Helden durch den Autor schlägt auch auf den Leser durch. Zwischendurch fragt man sich, was lese ich da für eine hanebüchene Geschichte zusammen, ehe schon wieder der Held auftritt, und selbst erkennt, dass er am Limit ist mit seiner Geschichte.

Regelmäßig erleichtert sich auch „der Gstrein“ in humorvoller Art seines eigenen Lebens, wenn er sich in Amerika Thurner nennt, weil Gstrein niemand aussprechen kann und Gestirn selbst für Amis zu geschwollen wäre.

Wie nach einem Tennismatch fallen einander Autor und Leser nach Spielende in die Arme. Das war doch ein schönes Spiel, was? Und wenn das Leben so ein Spiel wäre?

Norbert Gstrein: Der zweite Jakob. Roman.
München: Hanser 2021. 444 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-446-26916-3.


Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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