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H.W. Valerian
Die Ego-Demokratie
Essay

Mit großartigen Worten und Konzepten sollte man vorsichtig umgehen: Wendezeit, zum Beispiel. Das haben wir schon öfter gehabt, aber bisher fiel eine solche Wende allzu oft eher bescheiden aus. Das mag auch jetzt der Fall sein, wenn ich das Gefühl habe, wir stünden an einem einschneidenden Wendepunkt. Das Folgende wäre folglich mit Vorsicht zu genießen. Wenn Sie widersprechen, hab’ ich volles Verständnis.

Warum glaub’ ich also an eine Wende? Nun, in diesem Falle beziehe ich mich auf unsere Demokratie – das heißt, auf jene Ausgestaltung, wie wir sie seit 1945 kennen und als selbstverständlich betrachten; damit stehen wir an einem Wendepunkt in unserer Beziehung zum Staat.

Der zornige Widerstand gegen Corona-Maßnahmen entspringt unter anderem der (angeblichen) Zumutung, sich derlei – oder genauer: sich überhaupt irgendetwas – vom Staat vorschreiben zu lassen. Das beschränke die Freiheit des Einzelnen, heißt es, sein oder ihr Selbstbestimmungsrecht, die Wahlfreiheit, die Eigenverantwortung – wir kennen die Argumente.

Mir scheint, dem liegt eine Auffassung zugrunde, wonach „Demokratie“ eine Veranstaltung zur Selbstverwirklichung des Individuums darstelle. Alles, was den Interessen dieses Individuums entgegenliefe, wäre demzufolge undemokratisch.

Die Idee, dass es darüber hinaus eine zumindest ebenso bedeutende Instanz gebe, nämlich die kollektive oder – von mir aus – auch die gesellschaftliche – diese Idee erscheint völlig fremd, exotisch, wenn nicht gar bedrohlich. Gesellschaft gibt’s nicht, wie Margaret Thatchers berühmter Ausspruch lautete: “There is no such thing as society.“

Es erscheint mir leicht verständlich, wie sich diese Auffassung entwickeln konnte. Seit langer, langer Zeit, eigentlich schon seit 1945 sind wir keiner ernstlichen äußeren Bedrohung unseres Gemeinwesens samt unserer Lebensart ausgesetzt gewesen. Dadurch konnte tatsächlich der Eindruck entstehen, strenge Maßnahmen, Zwang womöglich gar, seien unnötig und somit unzulässig.

Ich versuche dies in Form eines Bildes zu veranschaulichen: Auf einem Boot, das gemütlich auf ruhiger See dahindümpelt, können sich die Passagiere in ihren Liegestühlen räkeln. Sie können über den Kurs des Bootes debattieren und sich über den Kapitän und seine angeblich mangelhaften Fähigkeiten lustig machen. Sie können sogar verlangen, dass alle seine Entscheidungen zuerst mit ihnen diskutiert werden. Das macht ja keinen Unterschied. Was aber, wenn Wellengang aufkommt? Womöglich gar Sturm?

Ursprünglich war Demokratie keineswegs primär fürs Individuum gedacht. Es ging um die Regierungsform. Und das hieß: Es ging um Herrschaft, um Macht. Was die Demokratie (so wie wir sie seit 1945 verstanden haben) auszeichnet, das ist die Art und Weise, wie diese Herrschaft organisiert wird. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Abwählbarkeit der Regierenden und so weiter.

Der Einzelne kam da bestenfalls indirekt vor, indem er oder sie von den Grundrechten profitierte, von der Rechtsstaatlichkeit schlechthin. Ansonsten hatte er oder sie sich den Gesetzen, den Anordnungen demokratisch gewählter Regierungen zu fügen.

Auch diese Disziplin, dieser Gehorsam gehören zu den demokratischen Tugenden. Anders würde eine Demokratie niemals funktionieren.

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich diese Auffassung verständlicherweise verändert; sie musste sich ändern, könnte man geradezu sagen. Das lag eben an den ruhigen, durchwegs erfolgreichen und somit weitgehend problemlosen (oder -armen) Zeiten, durch die wir segelten. Je ruhiger, desto weniger wichtig erschien die staatliche Instanz und damit die Notwendigkeit von Disziplin, von Gehorsam. Und je weniger wichtig diese Tugenden wurden, desto mehr trat das Individuum in den Vordergrund.

Sichtbares Zeichen waren zunächst die Volksbegehren, die ab den siebziger Jahren ständig zunahmen und an Bedeutung gewannen. Inzwischen sind wir schon so weit, dass erregte Demonstranten erbost ihr Recht einfordern, keine Maske zu tragen und andere nächtens im Gasthaus oder tagsüber im Bus nach Belieben anzustecken. Und wir nehmen das als gegeben hin: In einer liberalen Demokratie, heißt es dann, eine Gefahr für eben diese sei es… Da stehen wir heute.

Nun bläst uns aber plötzlich Wind ins Gesicht. Die strikt individualistische Ego-Demokratie schrammt an der Wirklichkeit vorbei: Wir sehen uns einer Bedrohung gegenüber, die quasi von außen kommt, in diesem Falle von der Natur – genau so wie übrigens die Klimakrise. Seit 1945 sind wir noch nie in einer derartigen Lage gewesen, sie ist also völlig neu. Daher wohl das Gefühl, wir befänden uns an einer Wende (obwohl es auch aus anderen Quellen gespeist wird).

Und die Frage lautet natürlich, wie die Ego-Demokratie damit fertig wird – wenn überhaupt.

H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

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