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Franz Tschurtschenthaler
Südtirol ohne Maske
Dritter Brief

Liebe Leserinnen und Leser!

Meine als Satire gedachten und angelegten Betrachtungen über die dialektalen Eigenarten der Südtiroler haben bei einer offensichtlichen Anwenderin dieses Dialekts leider sehr negative Vibrations hervorgerufen. Sie schrieb mir, ich sei ein Nazi-instruierter Besserwisser und also typisch deutsch; ich möge zwar als Bundesdeutscher vielleicht besser Hochdeutsch sprechen, sei aber unsympathisch wie alle meine Landsleute, während die Südtirolerinnen und Südtiroler sympathisch seien. Deshalb wünsche sie mir alles Schlechte, was ihr einfalle.

Abgesehen davon, dass der Dame das Stilmittel der Satire offenbar gänzlich fremd ist, und ich mich zudem hier gar nicht angesprochen fühle, weil ich vom Bundesdeutschen so weit entfernt bin wie Südtiroler Äpfel von Birnen aus dem Kanton Wallis, bringt mich das auch zu meinem nächsten Thema: der Skepsis des Südtirolers gegenüber allem, was nicht Südtirolerisch ist, nicht heimischen Dialekt spricht und daher offenkundig „fremd“ ist. Und deshalb lieber auf Distanz gehalten werden muss.

Ich will an dieser Stelle gar nicht auf das Verhältnis der Südtiroler zu den „Fremmen“ eingehen, die von einem anderen Kontinent kommen und von anderer Hautfarbe und anderer Kultur sind. Dass es solchen Menschen gegenüber Skepsis gibt, ist ja leider nicht nur ein Südtiroler Phänomen. Nein, ich spreche von der Reserviertheit gegenüber Europäern wie Sie und ich – Deutschen, Österreichern, Schweizern, denen die Südtiroler eigentlich volkstechnisch fast in geschwisterlicher oder zumindest nachbarlicher Liebe zugetan sein sollten.

Mitnichten! Wobei der geistige und vor allem seelische Abstand zunächst mit freiem Auge gar nicht zu erkennen ist. Wenn sich ganze Heerscharen von kontaktsuchenden Ausländern in Sportvereine einschreiben, bei Kirchenchören anheuern oder in die Reihen des Alpenvereins eingliedern, um Anschluss zu finden, wirken die Südtirolerinnen und Südtirol durchaus leutselig, zugänglich und offen. Sie wissen natürlich zu feiern und binden auch „Intruders“ großzügig in diese Feiertätigkeit mit ein. Also kein offensichtliches Bocken und Blockieren gegenüber Neuankömmlingen im Land, im Gegenteil: Es wird charmant geplaudert, ja sogar gescherzt und gelacht. Und das ahnungslose Gegenüber wiegt sich in falscher Hoffnung und denkt, wie easy es doch sei, hier Freundschaften zu gründen.

Der verhängnisvolle Irrtum stellt sich erst später heraus: Wenn nämlich der Zuagroaste sich erwartet, dass sich die vermuteten neuen Freunde auch nach international üblichem Kodex als solche benehmen – also zum Essen einladen oder sich einladen lassen, Abend- und Wochenendunternehmungen vorschlagen oder akzeptieren, bereitwillig ihre Freundeskreise öffnen und um das neue Mitglied erweitern. In Südtirol hat da manch hoffnungsvoller Kandidat leider schon länger drauf gewartet als auf Godot. Das wird nicht passieren, denn der Einheimische bleibt bei allen Aktivitäten, die über einen unverbindlichen Kaffee oder eine oberflächliche Abend- oder Sportpartie hinausgehen, lieber unter sich. Die tolle Sportskanone, das goldene Kehlchen oder der begabte Kletterer dürfen sich durchaus während der Vereinsstunden mit ihren Begabungen nützlich einbringen – aber danach ist auch schon Schluss.

Eine liebe bundesdeutsche Freundin, die vor Jahren mit ihrem ebenso bundesdeutschen Mann nach Südtirol gezogen ist („wegen des schönen Wetters und der schönen Landschaft“) nannte das Phänomen einmal „die gläserne Decke“: Im Smalltalk-Bereich unter dieser Wand gibt es kein Problem, aber sobald man nach oben aufs Freundschaftsniveau vorstoßen möchte, stößt man sich den Kopf wund. Und wundert sich, denn die Decke war ja auf den ersten Blick nicht sichtbar.

Warum das so ist? Darüber ergehe ich mich seit längerem mit meinen ausländischen Leidensgenossen in den wildesten Spekulationen.

Natürlich können wir bei der Ursachenforschung für diese Ablehnung des Fremden weit zurückgehen in die Zeit der blutigen Völkerwanderung, als ganz Südtirol von den Bajuwaren überrannt wurde. (Ganz Südtirol? Nein! Ein von unbeugsamen Ureinwohnern bevölkerter Teil des Landes entzog sich dem Zugriff der Eindringlinge – schlicht und einfach deshalb, weil er in damaliger Zeit zu unzugänglich war. Heute zeichnen sich die betroffenen Täler übrigens vorwiegend durch den ausgeprägten Geschäftssinn ihrer Einwohner aus, der wohl auf ihre Vorfahren zurückgehen mag.) Man kann davon ausgehen, dass die im Land lebenden Räter über den Einfall der Barbarenstämme nicht gerade entzückt waren. Andererseits sind wiederum genau diese Bajuwaren der Grund für die Germanisierung des gesamten tirolischen Raums und somit die eigentlichen Ahnen der Südtiroler…

Machen wir also einen Sprung in der Zeit und bemühen Napoleon und die Bayern, deren unheilvolles Wirken im damaligen Tirol jedem strammen Süd-, Nord- und Osttiroler bereits in der Volksschule eingebläut wird. Auch wenn die drei Tirols ohne diese Vorkommnisse ohne echten Nationalhelden dastünden, muss man doch tatsächlich anerkennen, dass hier die Eindringlinge von außen recht viel Schaden angerichtet und sich nicht gerade beliebt gemacht haben. Aber reicht das noch bis in die heutige Zeit? Oder sollten wir lieber auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verweisen, als Reiseführer das Bild, das in Tracht gewandete, singende Tiroler Wanderhändler im Ausland von Tirol zeichneten, zum Klischee formten und das Land so zum Sehnsuchtsort für Städter auf der Suche nach der romantischen Natur machten? Die „Fremmen“, die daraufhin kamen, wurden zwar von dem Teil der Bevölkerung, der an ihnen verdiente, durchaus freudig aufgenommen. Aber der andere, klerikal angehauchte Teil sah mit den Touristen viel Unheil nahen: liberale Kultur & Ideen und sündiges Leben. Wer sollte da nicht Abstand nehmen wollen von solchem Gesindel aus fremden Gefilden? Ob das den Südtirolern noch immer im Blut sitzt?

Oder müssen wir uns doch eher in die Zeit nach dem ersten und rund um den zweiten Weltkrieg beamen, als die neuen Herren im Land tatsächlich und unbestritten viel Unrecht und Leid ins Land gebracht haben? Aber halt! Stopp!

Natürlich prägt die Geschichte das Land und seine Leute und kann auch ein ausgeprägtes „Mir sein mir“- oder „Nur insere Leit zählen“-Gefühl verursachen. Aber ich gebe freimütig zu, dass ich mitsamt meinem zuagroasten Freundeskreis wohl in die Nähe von Verschwörungstheorien und Fake News rücken würde, wollte ich die heutige Haltung der Südtiroler zur Gänze von der Vergangenheit ableiten wollen. Die Wahrheit ist wahrscheinlich viel banaler. Wie sagte doch neulich eine Südtiroler Bekannte zu mir: „Wir (Südtiroler) brauchen euch nicht – wenn ihr was von uns wollt, müsst schon ihr anrufen.“

Ihr Franz Tschurtschenthaler

Franz Tschurtschenthaler

Franz Josef Tschurtschenthaler wurde 1980 im Schweizer Kanton Appenzell Ausserrhoden geboren und studierte Agrarwirtschaft. Zunächst war er als Agronom in Hundwil tätig, bis ihn sein Schicksal ereilte und es ihn auf den Spuren seiner Urahnen nach Südtirol verschlug. Schuld war nicht etwa die Liebe, sondern ein sehr interessantes, wenn auch nicht wirklich lukratives Arbeitsangebot. Seither wirkt Tschurtschenthaler im Spannungsfeld zwischen Bozen, Kaltern und Meran, wo er bei seiner Arbeit viel Gelegenheit hat, die Seele und Gepflogenheiten der Südtiroler zu studieren. Wenn er nicht seinem studierten Beruf nachgeht, frönt er seinem Hobby – dem Verfassen von Kommentaren, bei denen er sich selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstverständlich schreibt er genau deshalb unter Pseudonym, um dem Los seines Vorgängers im Geiste Carl Techet zu entgehen. Solange ihm dieses erspart bleibt, lebt Tschurtschenthaler mit Frau und Kindern irgendwo in Südtirol.

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