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Franz Tschurtschenthaler, Südtirol ohne Maske, Zweiter Brief

Liebe Leserinnen und Leser!

„Papa“, sagte heute meine Tochter zu mir, „bringst du mir bitte die „Libren“ aus meinem Zimmer?“ Sofort schrillten alle Alarmglocken und ich fühlte augenblicklich jenes kalte Grausen den Rücken hinunterrieseln, das wohl die Mitglieder der SVP befallen muss, wenn sie das Wort „Integrationsschule“ hören. Meine Tochter besucht nämlich aus Sprach-Anpassungsgründen den italienischen Kindergarten und hat nun offenbar gemacht, was Kindern halt so ureigen ist: Sie hat sich in Windeseile Brocken der italienischen Sprache bemächtigt und in einem wunderbaren Akt der sprachlichen Integration das Wort „libri“ = Bücher mit einer perfekt passenden Endung eingedeutscht.

Als ich diesen Vorfall aber dann abends bei einem guten Glas Magdalener Revue passieren ließ, fiel mir auf: Nichts anderes tun eigentlich auch die Südtirolerinnen und Südtiroler, wenn sie Dialekt sprechen – also so gut wie immer. Denn die Mundart dominiert hier in den meisten Bereichen des täglichen Lebens, bis hin zu Medien und Politik. Was Ihnen, werte Leserinnen und Leser, als gelernte Tiroler aber wohl eh nicht so fremdartig erscheinen mag. Gar fremd werden aber wohl einige Ausdrücke und Redewendungen für Sie klingen, mit denen der Südtiroler Dialekt ganz selbstverständlich aufwartet, hat er doch im Laufe der Jahrhunderte so einiges aus dem Italienischen aufgesaugt, assimiliert und/oder schlicht einge“daitscht“.

Oder wüssten Sie, was ein Südtiroler meint, wenn er sagt: „Hiatz bin i von meim Kondominium weggforn und die Karpf houbm mi augheb und nochm Patent und der Identitätskort gfrog, obr i honn’s boads et mitghob und norr houbn se mir a Multa gebbn. Dio cane, wor i dercazzt!“

Zur Erklärung für Nicht-Kundige: Da wurde jemand auf der Fahrt von seinem Mehrparteienhaus von der Polizei aufgehalten und nach Führerschein und Personalausweis gefragt, die er aber nicht mithatte. Über die daraufhin erteilte Strafe war er dann sehr verärgert („dercazzt“). Wobei dieses Wort genauso wie das „Libren“ meiner Tochter ja ein weiteres entzückendes Beispiel für sprachliche Anpassung ist: Hier wurde einfach der Wortstamm des italienischen „incazzarsi“ (böse werden) mit einer südtirolerischen Vorsilbe und einer deutschen Perfekt-Wortendung versehen und schwups! – klingt alles schön deutsch.

Was hingegen gar nicht Deutsch klingt und auch nicht soll, ist das Fluchen. Wenn ein Südtiroler (ich behaupte jetzt mal als Kavalier, dass die Südtirolerinnen das niemals tun) loslegt, dann wird jeder kalabresische Fischer rot. Die umfangreiche Palette reicht von „Zio porco“ über „vaffanculo“ und „cazzo“ bis „dio cane“; Ihnen hier die genaue Bedeutung zu erklären, halte ich für müßig. Klingt zugegebenermaßen aber auch viel beeindruckender als „scheiße“! Finden sie nicht? Weshalb das „walsche“ Gefluche auch ganz besonders hohen Stellenwert in der Jugendsprache hat – in manchen Altersstufen und bestimmten Gegenden/Kreisen wohlgemerkt. Ebenso wie emotional-expressive Satzadverbien wie „boh!“ (ich weiß nicht), „ma va!“ (aber geh!), „uffa!“ (jetzt langt’s mir aber), „dai!“ (ach geh! oder na los!) oder „magari“ (vielleicht).

Einmal abgesehen vom Fluchen gibt es Bereiche, wo auffällig viele Italianismen zu finden sind, wie etwa wenig überraschend die Amts- und Verwaltungssprache mit Ausdrücken wie „Assessor“ („assessore“) für „Landesrat“, „rakkomandierter“ Brief („lettera raccomandata“) für Einschreibbrief oder „Targa“ (sic) für Nummernschild.
Oder auch, wenn Dinge oder Sachverhalte benannt werden, die es nur im italienischen Sprachraum gibt. Ein Beispiel: Nehmen wir mal an, Sie sind leicht angesäuselt, wollen in Ihr Auto steigen, und ein Südtiroler will sie davor warnen, dass gerade ein Polizist im Anmarsch ist, der den Carabinieri angehört. Was sagt er dann zu Ihnen? Carabinieri gibt es ja im deutschen Sprachraum keine, somit gibt es hier auch keinen adäquaten deutschen Ausdruck, aber mit einem eilig geflüsterten „Obocht, do kimp a Karpf!“ ist jenseits des Brenners für alle Beteiligten alles klar.

Ob es nun diese vielen Italianismen sind, die fehlende Verstädterung, die kritische Haltung des Südtirolers vor allem, was von außen kommt, oder anderes: Die Distanz der Südtiroler zur deutschen Hochsprache ist für mich als Zuagroasten jedenfalls durchgehend ziemlich stark spürbar. Sie schlägt sich unter anderem in einem wohl deutlich geringeren Wortschatz als jenem anderer deutscher Muttersprachler nieder, aber auch in einem permanenten Konflikt mit der korrekten Anwendung des dritten und vierten Falles oder auch gelegentlich in einer aus dem Italienischen importierten Satzstellung wie etwa in: „Sell schun isch a schiane Gitsch“ (Das ist wirklich ein schönes Mädchen).

Und denken Sie jetzt bitte nicht, ich unterstelle unseren Briedern und Schwestern im Sieden da Böses, denn diese Defizite sind sogar amtlich bestätigt, wurden sie doch durch eine Studie (DESI 2003) bei Gymnasiasten nachgewiesen. Beim Wortschatztest erreichten dabei nur 14 Prozent der Südtiroler Gymnasiasten die höchste Leistungsgruppe. Zum Vergleich: In Deutschland gehört dieser fast die Hälfte der 15jährigen an. In der schlechtesten Gruppe landete hingegen fast ein Viertel der Südtiroler gegenüber nur 7 Prozent der deutschen Schüler.

Was mich wieder zu meiner Tochter bringt: Sie ist zwar vom Gymnasium noch etwas entfernt, aber ich habe da wohl noch ein schönes Stück Arbeit vor mir, damit sie tatsächlich mehrere Sprachen perfekt spricht, wenn sie dort ankommt: Deutsch, Italienisch und natürlich auch Südtirolerisch. Porzelana!

Ihr Franz Tschurtschenthaler

L

Franz Tschurtschenthaler

Franz Josef Tschurtschenthaler wurde 1980 im Schweizer Kanton Appenzell Ausserrhoden geboren und studierte Agrarwirtschaft. Zunächst war er als Agronom in Hundwil tätig, bis ihn sein Schicksal ereilte und es ihn auf den Spuren seiner Urahnen nach Südtirol verschlug. Schuld war nicht etwa die Liebe, sondern ein sehr interessantes, wenn auch nicht wirklich lukratives Arbeitsangebot. Seither wirkt Tschurtschenthaler im Spannungsfeld zwischen Bozen, Kaltern und Meran, wo er bei seiner Arbeit viel Gelegenheit hat, die Seele und Gepflogenheiten der Südtiroler zu studieren. Wenn er nicht seinem studierten Beruf nachgeht, frönt er seinem Hobby – dem Verfassen von Kommentaren, bei denen er sich selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstverständlich schreibt er genau deshalb unter Pseudonym, um dem Los seines Vorgängers im Geiste Carl Techet zu entgehen. Solange ihm dieses erspart bleibt, lebt Tschurtschenthaler mit Frau und Kindern irgendwo in Südtirol.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Artim

    „Papa“, sagte heute meine Tochter zu mir, „bringst du mir bitte die „Libren“ aus meinem Zimmer?“
    Dass im Süden Tirols das Wort „Libren“ anstatt Bücher verbreitet sein soll, bezweifele ich und ist wohl eher eine Wortneuschöpfung Ihrer Tochter, um Sie vielleicht besonders mit ihrer vermeintlichen Bildungssprache zu beeindrucken oder auch nur aus Freude an Kreativität. In der Kinderzeit haben manche sogar spiegelverkehrt gelesen und gesprochen, eine Geheimsprache entwickelt, mit Sprache experimentiert usw. Sprache ist eben Handeln.

  2. Armin Unterberger

    Sehr geehrter Herr Tschurtschentaler,
    ich bewundere Ihre Sichtweise der Südtiroler Kultur. Aber dennoch glaube ich, dass in Ihren Gedanken noch immer zu sehr das „Deutsche“ verankert ist.
    Absolut verstehe ich auch, dass Sie möglicherweise als Bundesdeutscher einen sehr starken Wert auf die korrekte Anwendung der Duden´schen Schreibweise legen. Dennoch wird Ihnen sicherlich auch klar sein, dass jeder Dialekt seinen eigenen Logiken und Regeln folgt. So auch das Südtirolerische. Und vor Allem (ja, das große „A“ ist grammatikalisch korrekt) die italienischen Einflüsse sind ein Ausdruck sich vermischender (und insofern zusammenlebender) Kulturen.
    Gleichfalls werden Sie – sofern Sie sich damit befasst haben – auch im italienischen Wortschatz der südtiroler Italiener (auch gerne „Walsche“ genannt) deutsche Ausdrücke finden.
    Dies vorausgeschickt sei zu sagen, dass die „Verfehlungen“ zwischen den einzelnen Fällen nicht nur in Südtirol zu finden sind – dazu sei nur das Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ genannt (welches sicherlich nicht auf Grundlage der Südtiroler Sprache verfasst wurde).
    Es mag möglich sein, dass „der Südtiroler“ der Deutschen Hochsprache nicht gleichsam mächtig ist wie „der gebürtige Deutsche“. Dies kann daran liegen, dass der Dialekt (und/oder Italienisch) eindeutig die vorherrschende Kommunikationssprache ist.
    Was hingegen hat Südtirol, was „der Deutsche“ nicht hat? Einen ständigen und akzeptierten kulturellen Austausch mit verschiedensten Sprachen, Kulturen und Einflüssen.
    Sprache und Kultur ist ein sich ständig ändernder Faktor in der sozialen Umgebung jeder einzelnen Zivilisation. Ansonsten würden wir noch immer Proto-Germanisch sprechen.

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