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Franz Tschurtschenthaler, Südtirol ohne Maske, Erster Brief

Liebe Leserinnen und Leser!

Hundertelf Jahre ist es her, da schrieb ein österreichischer Landsmann sich in dem „gar lustigen Büchlein“ – so der Verleger anno dazumal – „Fern von Europa“ alles von der Seele, was er so über „Tirol ohne Maske“ zu sagen wusste. Er stünde vor der Aufgabe, meinte der Wiener Karl Techet alias Sepp Schluiferer in seinem Vorwort, über ein Land zu berichten, „das bisher nur von Bergsteigern und Hotelbewohnern durchforscht und geschildert wurde“. Was man von diesen erfahre, sei zu wenig: „Sie entzücken sich über Dinge, die sich auf den ersten Blick zu erkennen geben. – Der andere Teil blieb mir. Es ist das unbekannte Land, das sich keinem von heute auf morgen eröffnet. Es ist das intimere Leben und Fühlen eines Volkes.“ Davon etwas zu erfahren, brauche es Jahre, aber ein freundliches Schicksal habe ihm die nötige Beobachtungszeit überreichlich zugedacht.

Nun, auch mit mir war das Schicksal freundlich und ermöglicht es mir seit nunmehr einigen Jahren, dem südlichen Teil Tirols meine forschende Aufmerksamkeit zuzuwenden. Oder besser gesagt: ich widme mich seinen Einwohnern, die ich derzeit allerdings MIT Maske zu betrachten pflege: unseren „Briedern im Sieden“, wie ein längst verblichener Landeshäuptling sie stets zu nennen pflegte.

Ich tue das, liebe Leserinnen und Leser, um Ihnen trotz verspielter Landeseinheit die Möglichkeit zu geben, über die Unrechtsgrenze Brenner ein bisschen drüberzublinzeln und den einen oder anderen Insider-Einblick auf das Leben auf der anderen Seite der Wasserscheide zu erhaschen. Meinem Vorgänger Techet bekam das Verfassen des „gar lustigen Büchleins“ übrigens nicht besonders – er wäre dafür von den aufgebrachten Tirolern fast gelyncht worden und musste außer Landes fliehen. Ich hoffe, dieses grausame Schicksal bleibt mir erspart und ich kann meine Betrachtungen unbeschadet wiedergeben.

Was den eben zitierten Landeshäuptling übrigens mit Südtirol verband, waren seine „Südtiroler Wurzeln“! Eduard Wallnöfer wurde 1913 in Schluderns geboren. Diese Südtiroler Wurzeln hat er mit unzähligen weiteren, sehr wichtigen Personen auf der ganzen Welt gemeinsam. Studiert man aufmerksam die „Dolomiten“, dieses viel geliebte und von einigen wohl auch gehasste Tagblatt des Landes, dann stolpert man allenthalben über solches Wurzelwerk. Denn immer, wenn im ach so fernen Ausland ein Politiker dem Volke Gutes tut, ein Wissenschaftler Bahnbrechendes erfindet, ein Schauspieler Kaiserwürden erlangt, ein Showmaster ungeahnte Popularität erlangt oder ein Musiker mit den Spatzen pfeift: die allerwichtigste Eigenschaft, die ihn dabei auszeichnet, ist seine Zugehörigkeit zum Volksstamm der Südtiroler. Oder in Ermangelung dessen zumindest „Südtiroler Wurzeln“, die spätestens in dritter oder vierter Generation problemlos nachzuweisen sind und den/die VIP derart adeln, wie es seine/ihre Verdienste alleine niemals vermöchten.

Womit wir bei dem Charakterzug wären, den man als „Zuagroaster“ hierzulande oft besonders stark zu spüren bekommt: ein großes Selbstbewusstsein und einen noch größeren Nationalstolz. Das doch etwas überheblich klingende „Bisch a Tiroler, bisch a Mensch…“ des Nordens hat geradezu Waisenknabenzüge gegenüber dem „Mir sein mir“ und der Wir-sind-der-Nabel-der-Welt-Mentalität der Südtiroler, die felsenfest davon überzeugt sind, auf der Butterseite der Alpen gelandet zu sein.

Hier gibt es aber auch die wunderbarsten Landschaften der Welt, die Berge sind am spektakulärsten, die Hügel am lieblichsten, die Seen am grünsten, die Städte und Dörfer am einladendsten. Der Wein ist der beste, den menschliche Zungen jemals berührt haben, ebenso wie die landeseigenen Produkte, die es anderswo nirgends so gibt und die heimische Küche flächendeckend zu einer Spitzenperformance macht, was 25 Michelin-Sterne und 98 Gault-Millau-Hauben ja unschwer beweisen. Absolute Spitze sind natürlich auch die Südtiroler Industrie mit ihren unzähligen Weltmarktführern und das hiesige Handwerk, das an Know-how nicht zu toppen ist. Aber auch die Madln sind die hübschesten und haben am meisten Holz vor der Hütte – man möge mir als strammem Tiroler Burschen eine saloppe Bemerkung verzeihen, die ich selbstverständlich durch Eigenbeobachtung bestätigen kann. Und natürlich sind auch die Südtiroler Burschen die feschesten unter Sonne und Mond zugleich.

Ich halte an diesem Punkt inne mit meinen Aufzählungen, um Sie, werte Leserin und den ebenso werter Leser, nicht zu langweilen. Möglicherweise ist in Ihnen nämlich ein Verdacht aufgekeimt, der auch mich schon seit Jahren plagt: Sind so viele Superlative auf einem Fleck der Erde, und sei er auch noch so schön, überhaupt möglich? Und was sagt die Bereitschaft, solches zu glauben, über den Menschen aus? Der Südtiroler ist jedenfalls davon überzeugt, was seine etwas herablassende Haltung gegenüber dem Rest der Welt erklärt. Die auch irgendwie nachvollziehbar ist, kann man doch nur hinabblicken auf all jene Bemitleidenswerten, denen Gott, das Universum oder wer auch immer dafür zuständig ist, nicht solche Lebensfülle wie hierzulande zuteilwerden ließ.

Conclusio: Bisch a Südtiroler, bisch a Gott, bisch koaner, then go lieber wieder hoam. Daran werde ich mich nun aber nicht halten! Wer würde Ihnen dann künftig die Beobachtungen aus dem Süden nahebringen und so zumindest den Versuch unternehmen, die beiden schmerzlich getrennten Landesteile dank besseren Verständnisses für die Butterseiten-Brüder wieder näher zusammenzuführen?

Daher bis zum nächsten Mal, spätestens in zwei Wochen
Ihr Franz Tschurtschenthaler

PS: Ja genau! Mein Name verrät es: Auch ich habe Südtiroler Wurzeln, aber nicht weitersagen!

Franz Tschurtschenthaler

Franz Josef Tschurtschenthaler wurde 1980 im Schweizer Kanton Appenzell Ausserrhoden geboren und studierte Agrarwirtschaft. Zunächst war er als Agronom in Hundwil tätig, bis ihn sein Schicksal ereilte und es ihn auf den Spuren seiner Urahnen nach Südtirol verschlug. Schuld war nicht etwa die Liebe, sondern ein sehr interessantes, wenn auch nicht wirklich lukratives Arbeitsangebot. Seither wirkt Tschurtschenthaler im Spannungsfeld zwischen Bozen, Kaltern und Meran, wo er bei seiner Arbeit viel Gelegenheit hat, die Seele und Gepflogenheiten der Südtiroler zu studieren. Wenn er nicht seinem studierten Beruf nachgeht, frönt er seinem Hobby – dem Verfassen von Kommentaren, bei denen er sich selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstverständlich schreibt er genau deshalb unter Pseudonym, um dem Los seines Vorgängers im Geiste Carl Techet zu entgehen. Solange ihm dieses erspart bleibt, lebt Tschurtschenthaler mit Frau und Kindern irgendwo in Südtirol.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Reinhold Zust

    Werter Herr Tschurtschenthaler,
    man darf nun also, längstens 14 Tage, in hoffnungsvoller Erwartung verharren und sich auf den „Zweiten Brief“ und möglicherweise noch mehrere freuen, in denen Sie die Ergebnisse Ihrer „langjährigen Forschungen auf der anderen Seite der Wasserscheide“ präsentieren.
    Wenn Sie in Techet Ihren Vorgänger erkennen und ihn gar als Ihr Vorbild betrachten, dann wird man sich ja „zur Ehre des erforschten Landes“ an etlichen, geistvoll-satirischen G’schichtln über typische Südtiroler Eigenheiten erfreuen können, wobei erwähnt werden sollte, dass sich eigentlich jede beliebige Talschaft Nord- oder Südtirols und jedes Bundesland für diesbezügliche Forschungszwecke eignen dürfte.
    Einen wesentlichen Unterschied zwischen Techet und Ihnen glaube ich allerdings darin zu erkennen, dass selbiger ein gebürtiger Wiener war, der sich über die „Tarrola“ lustig machte, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie mit Südtiroler Wurzeln ausgestattet sin. Die belehrende Erwähnung über die Herkunft Ihres wohlklingenden Familiennamens ist für viele Ihrer Landsleute höchst überflüssig, was tatsächlich ein wenig als die von Ihnen zitierte, herablassende Haltung des erforschten Menschenschlages aufgefasst werden könnte.
    Ihr Vorhaben, über die eigenen Landsleute, nach Art des Schluiferer, einen „Insider-Anblick zu erhaschen“ und diesen zu präsentieren, ohne dass der Eindruck des „Nestbeschmutzens“ entsteht, wird Ihnen sicherlich gelingen, damit nicht, was Ihrem Vorgänger passierte, im Nachfolgeblatt des „Tiroler Wastl“ über Sie zu lesen steht: „Wer dieser Spottgeburt aus Dreck und Spülicht nur einen Bissen Brot, nur einen Tropfen Wasser reicht, dem faule die Hand vom Leibe, und wer dieses Scheuchsal tötet und zu Aas macht, der sei gepriesen“. Ganz im Gegesatz dazu wünsche ich Ihnen massenhaft lobende Rezensionen, wie etwa anno 1909 im Generalanzeiger für Neustadt a.H.: „Soviel treffliche Satire, soviel geistreicher Witz und zu Herzen gehender Humor kommen selten auf so beschränktem Raum zusammen…..“. Solch überschwängliches Lob möge auf ihrer folgenden Briefe zutreffen.
    Übrigens, was mein Zuname nicht verrät: Südtiroler Wurzeln!
    Hoila!

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