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Elias Schneitter
Das haben sie sich nicht verdient!
Short Story

Ein Wiener Beisl, nur wenige Schritte von meiner Wohnung entfernt, hatte ganz eigene Öffnungszeiten. Montag, Mittwoch, Freitag und Samstag sperrten sie auf. Sonst war geschlossen. Es hatte den Anschein, als ob die Gäste und die Bedienung viele Ruhetage notwendig hatten, und damit lag man nicht ganz falsch.
Ganz früher war das Beisl sechs Tage offen und wurde um sechs in der Früh aufgesperrt. „Für die ganz harten Trankler“, wie die Inhaberin meinte.
Ausnahmen bei den Öffnungszeiten bildeten nur die Weihnachtsfeiertage, der Jahreswechsel und die Tage um Allerheiligen und Allerseelen, also zu Zeiten, in denen die Einsamkeit besonders groß ist.
„In diesen schweren Zeiten dürfen wir unsere Gäste nicht im Stich lassen“, war die Inhaberin überzeugt. Sie war die gute Seele dieses Schuppens.
Wie lange das Lokal abends offen hatte, hing vom Zustand der Stammgäste ab. Wenn alle besoffen waren, dann wurde zugesperrt. Das konnte am späten Nachmittag sein oder auch erst gegen Mitternacht. Da spielten der Mond oder auch ein bevorstehender Wettersturz eine Rolle, wie die gute Seele des Hauses überzeugt war. „Bei Vollmond spinnen alle.“
Der Lebensgefährte der Inhaberin war ein waschechter Ottakringer mit einem ausgeprägten Dialekt und beim ersten Eindruck dachte ich mir, der Kerl passt aber schon überhaupt nicht zur weichherzigen Besitzerin. Zudem war er zumindest fünfzehn Jahre jünger als sie. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Ich hegte da meine eigenen Gedanken.
Der Ottakringer war für mich ein rauer Kerl, der nicht unbedingt meine Kragenweite hatte, aber da er nicht regelmäßig im Lokal anwesend war, kümmerte mich das weiter nicht. Er erledigte vor allem den Einkauf und den Nachschub.
Mit seiner kernigen, schroffen Sprache verstand er es, sich Gehör zu verschaffen. Als das große Rauchverbot in den Lokalen anstand, verfluchte er nicht nur die Regierung, sondern zeigte sich sogar von seiner prophetischen Seite: „Im Winter, wenn alle vor die Tür zum Rauchen müssen, dann wünsche ich dieser Idioten-Regierung eine Million Lungenentzündungen. Da schau´ ich mir an, wo sie dann bleiben“, fluchte er. Trotzdem hielten sich alle Gäste an das Rauchverbot und gingen auf die Straße hinaus. Wenige Wochen später brach Corona aus und die Regierung schaute wirklich blöd aus der Wäsche. Das hatte natürlich nichts mit dem Rauchen zu tun.
An der Wand hing ein gerahmtes Farbfoto, das den Ottakringer mit H.C. Strache zeigte. Aufgenommen wurde das Bild bei der „Raucherdemo“ vor dem Bundeskanzleramt.
Wenn ich mittags zu einem Kaffee im Beisl vorbeischaute, dann lud mich die Inhaberin stets auf ein Mittagessen ein. Sie kochte für sich und einige ihrer Stammgäste. Die meisten nahmen das Angebot nicht an, weil sie vorwiegend flüssig speisten. Das Essen war immer sehr gut und frisch gekocht und ging aufs Haus. Sie ließ sich dafür nicht bezahlen. „Ich muss sowieso kochen.“ Man zeigte sich halt beim Trinkgeld erkenntlich.
Was Alkohol betrifft, habe ich in meinem Leben schon jede Menge erlebt, dennoch nötigten mir die konsumierten Mengen Respekt ab, vor allem die harten Sachen. Schnaps und Jägermeister. Eine Runde nach der anderen. Gefährlich wurde es für mich nur, wenn sie mich in ihr Einladungsspiel miteinbezogen. Einladung, Rückeinladung, usw. Weißgespritzte oder Bier zählten hier nicht als Alkohol. Sie dienten eher dazu, den Flüssigkeitshaushalt in Ordnung zu bringen.
Natürlich standen alle Stammgäste in irgendeiner Beziehung zur Inhaberin. „Wir sind eine große Familie“, sagte Biggy. So saß eine langjährige Freundin jeden Tag bei ihr. Ihr Hochsitz wurde der Beichtstuhl genannt. Vom Äußeren passte sie nicht unbedingt in die Umgebung. Sie war nobel gekleidet, trank ihre Weißgespritzten in Ruhe, und saß von früh bis spät da. Sie war beinahe blind. Sie kam mit dem Taxi und wurde mit dem Taxi nach Hause gebracht. Vor ihrer Pensionierung war sie Oberkrankenschwester am Steinhof, „bei den Psycherln“, wie Biggy sagte, „jetzt hat sie nur die Abteilung gewechselt.“ Die härtesten Tage waren für sie, wenn das Beisl Ruhetag hatte. Sie war alleinstehend. Der Beichtstuhl fehlte ihr.
Felix war auch ein Sorgenkind. Seit dem Tod seiner Frau hatte er den Boden unter den Füßen verloren. Felix war früher Rockmusiker. Die Musikbox machte ihm einigermaßen zu schaffen. Die Bambis, Peter Alexander, die Amigos, Frank Sinatra. Aber er tröstete sich mit Tegernseer. Biggy ließ es extra für Felix ins Lokal bringen. Der Rockmusiker war gut zwei Meter groß, hatte schulterlanges Haar und bei einer Flasche setzte er gerade zweimal an, dann war sie leer. Wenn es zu viele Flaschen wurden, dann bestellte Biggy ein Taxi. Einmal hatte Biggy für Felix ein Taxi bestellt. Als er weg war, meinte sie: „Heute waren es siebzehn Tegernseer. Der Verlust seiner Frau macht ihn so traurig. Aber Felix trinkt zum Glück nur Bier.“ Bei den üblichen Runden beteiligte er sich nie. „Normalerweise trinkt er seine zehn Tegernseer. Mehr nicht.“
Meine Aufenthalte im Beisl gestalteten sich nach Möglichkeit eher kurz. Aber an manchen Tagen war es einfach notwendig, sich fallen zu lassen. Hier störte es niemand, man war in bester Gesellschaft.
Einmal staunte ich nicht schlecht, als der Ottakringer eine Runde Schnaps und Jägermeister springen ließ. Er hob das Glas und meinte: „Auf den Söligen…“ Es war der 20. April.
Bald darauf verschwand der Ottakringer für einige Zeit. Gerüchte und Vermutungen kursierten unter den Gästen. Es hieß, dass er das Lokal mied, weil er die ganzen Arschlöcher hier nicht mehr aushielt. Natürlich machten auch Trennungsgerüchte die Runde. Ebenso wurde kolportiert, dass er von Biggy einen fünfstelligen Betrag gefordert hätte.
„Alles Blödsinn“, sagte Biggy zu mir.
„Er meidet das Lokal, weil er überbelastet ist!“ Da erst erfuhr ich, dass der Ottakringer seit zwanzig Jahren seinen Bruder, der zuhause im Wachkoma lag, rund um die Uhr betreute.
„Alle vier Stunden muss er heim, ihn wickeln, wenden und das schon seit so vielen Jahren. Am Sterbebett seiner Mutter hat sie ihm dieses Versprechen abverlangt. Die Arbeit hier im Lokal und dann alle vier Stunden zu seinem Bruder, das ist ihm zu viel geworden.“
Ich staunte nicht schlecht, als ich die Geschichte vernahm. Vielleicht hatte ich ein falsches Bild vom Ottakringer. Nach einer Weile kam er wieder zurück.
Vor Jahren, als ich noch nicht in dieser Gasse gewohnt hatte, tauchte hier auch ein paar Mal die T. Spira auf. Biggy verstand sich gut mit ihr, aber sie hat die Spira gebeten, ihr Beisl und ihre Stammkunden nicht zu filmen. Zu mir sagte Biggy: „Weißt du, ich wollte nicht, dass meine Stammgäste zum Gaudium des Fernsehpublikums vorgeführt werden. Das haben sie sich nicht verdient. Die Spira hat mich gut verstanden. Mir wären solche Aufnahmen unangenehm gewesen.“

Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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