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Bettina Maria König
Zum Teufel mit der Theorie!
Short Story

Er hatte „Ich liebe dich“ zu mir gesagt! Julian, der Mann meines Lebens, hatte „Ich liebe dich“ zu mir gesagt! Überglücklich wählte ich Beas Nummer, um ihr alles brühwarm zu erzählen.

Natürlich hatte auch sie immer mal wieder bei mir im Krankenhaus vorbeigeschaut, um zu sehen, wie es mir ging. Aber vor allem, um sich berichten zu lassen, wie die Sache mit Julian lief. Sie war nun ohne Paul gekommen, der es vorgezogen hatte, diskret daheimzubleiben. Wobei – wahrscheinlich war es weniger Diskretion als vielmehr die Panik, irgendwo zwischen die Fronten zweier Frauen zu kommen, von denen eine seine Bea war. Und es war nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen, das wusste er mittlerweile. Bea hatte mir bei ihren Besuchen immer die latest News aus der Uni vorbeigebracht und mich auf dem Laufenden gehalten, was am Vorabend wieder mal Unglaubliches im „Filou“ passiert war. Ich hatte ihr hingegen von Julian und seinen täglichen Besuchen erzählt, und ihr Misstrauen war langsam dahingeschmolzen: „Naja wer sagt’s denn. Vielleicht ist der Knabe ja doch nicht so übel, wie du gedacht hattest“, hatte sie schließlich mit Gönnermine gemeint. Ich hatte den Mund geöffnet, um zu protestieren, denn eigentlich war sie ja diejenige gewesen, die Julian ständig misstraut hatte. Aber ich ließ es dann doch lieber sein, das hatte bei Bea keinen Sinn, und zudem war ich natürlich froh, wenn sie ihn mochte. Meinen zukünftigen Mann.

Als ich ihr von Julians Liebeserklärung erzählte und seine Ankündigung mitteilte, mich am nächsten Tag abzuholen, sagte sie im Brustton der Überzeugung: „Das ist eben einer von denen, die Anlaufschwierigkeiten haben und ein bisschen brauchen. Hör endlich auf zu zweifeln und werde glücklich mit ihm!“. Und sie schickte mir übermütig Küsschen durchs Telefon. „Na, dann halte ich mich morgen Vormittag mal fern von unserer Bude. Muss eh auf die Uni“, fügte sie noch hinzu, und ich konnte ihr Grinsen förmlich spüren.

Am nächsten Tag war ich in aller Frühe schon wach – was in einem Krankenhaus nicht schwierig ist, was jeder weiß, der mal in einem solchen gelegen hat – und versuchte, mich im grellen Neonlicht des Badezimmers so gut es ging etwas herzurichten. Was mir auch gar nicht schlecht gelang, mal abgesehen davon, dass meine Nase immer noch geschwollen und stellenweise Yves-Klein-blau war. Ich war trotzdem nicht unzufrieden mit dem, was ich da im Spiegel sah. Dann packte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und ließ die letzte Visite über mich ergehen. Der Arzt war sehr zufrieden mit mir. Und dieses Mal nahmen die Jungärzte und -studenten sogar Notiz von mir, wie ich bemerkte. Aber es war mir so was von egal, sollte doch in Kürze mein Traummann erscheinen und mich mitnehmen. Dachte ich.

Dachte ich immer noch, als die Schwester mit den Entlassungspapieren kam und mir bedeutete, ich solle jetzt doch bitte das Zimmer räumen, man müsse für den nächsten Patienten disponieren. Dachte ich immer noch, als ich im Wartezimmer saß und in einer uralten Klatschzeitschrift blätterte, während ich auf Julian wartete. Als es schließlich 12 Uhr längst vorbei war – also Stunden nach dem vereinbarten Termin – rang ich mich dazu durch, ihn anzurufen. Ich ließ es ewig läuten, aber keiner hob ab. Ich versuchte es in der nächsten Stunde noch zehn Mal, mit demselben Ergebnis. Also wählte ich schließlich mit Tränen in den Augen eine andere Nummer: jene von Bea, die wiederum keine 30 Minuten später vor mir stand – besorgt und fürsorglich, aber auch extrem wütend. „Scheißtyp!“, zischte sie, „von wegen Anlaufschwierigkeiten… von wegen er braucht nur ein bisschen länger… Pah – den Blödsinn hab‘ ich dir sowieso nicht abgenommen. Du musst endlich anfangen, auf mich zu hören!“.

Zuhause verkroch ich mich in mein Zimmer und verließ es erst mal für eine Woche nicht. Ich versuchte noch ein-, zweimal, Julian anzurufen, aber es ging nie jemand an den Apparat. Er blieb untergetaucht. Schließlich gab ich auf und hörte auf, ihn zu kontaktieren. Aber nicht zu trauern. Nach der Woche hatte ich keine Taschentücher mehr und musste mich zudem endlich wieder mal auf der Uni blicken lassen – die Nasenbrecher-Geschichte hatte mich samt Julian-Trauerphase fast drei Wochen in den Vorlesungsrückstand gebracht. Woran mich vor allem meine Mutter täglich in einem Telefonat erinnerte.

Die Wochen zogen ins Land, meine Verzweiflung wegen der verschwundenen großen Liebe mutierte zu Wut, die Wut flaute langsam ab, und mich erfasste so etwas wie Gleichmut. Dass Gleichgültigkeit besser gewesen wäre, wurde mir an einem regnerischen Spätherbstabend klar. Ich lag gerade mit einem Krimi im Bett – Liebensgeschichten ertrug ich derzeit nicht -, als es an der Tür läutete. „Bea!“, rief ich impulsiv, aber mir wurde gleichzeitig klar, dass sie ja heute bei ihrem Paul übernachtete. Ich trug meinen ausgeleierten Pyjama mit den roten Herzchen, also warf ich mir schnell einen Morgenmantel über, stopfte die Schokokekse, an denen ich mich gerade gütlich getan hatte, ins Nachtkästchen und schlurfte zur Tür. Wahrscheinlich war das eh nur einer von Beas Verehrern, der noch nicht wahrhaben wollte, dass es ihr mit Paul bitterernst war, und sie zum Ausgehen verführen wollte. Ich drehte den Haustürschlüssel um, öffnete einen Spalt und erstarrte zur Lot’schen Salzsäule. Da draußen stand Julian.

Stand da und sah mich einfach nur an. Im ersten Schreck wollte ich sofort die Türe wieder zuschlagen, aber meine Arme gehorchten mir nicht. Ich konnte mich nicht bewegen und starrte zurück. “Darf ich reinkommen?“, fragte er schließlich. Ich nickte langsam und öffnete die Türe etwas weiter. Wir setzten uns auf mein Bett – ein Wohnzimmer gab es in der WG nicht. Dass das ein Fehler war, war mir klar. Aber was sollte ich machen? Die Verzweiflung, Wut und dieser sogenannte Gleichmut der letzten Wochen hatten sich in einer Sekunde wieder in Luft aufgelöst, als ich ihn vor meiner Türe stehen sah. „Es tut mir so unendlich leid“, begann er zögernd, „ich wollte ja kommen, aber…“. Pause. Stille. „Ich konnte nicht“, fuhr er fort. „Ich wusste nicht, ob ich das wirklich will. Es ging alles so schnell!“. Ich starrte ihn ungläubig an. Alles so schnell? Der einzige, der hier wirklich schnell gewesen war, war doch Julian mit seinem „Ich liebe dich“! Ich hätte mich das niemals zu sagen getraut nach so kurzer Zeit. Einmal, weil mir das Bea mittlerweile so eingebläut hatte, und außerdem wurde das ausführlich in dem Buch erläutert, das sie mir als Lektüre sehr nachdrücklich ans Herz gelegt hatte: „Die Kunst, den Mann fürs Leben zu finden“ hieß es. Ich war sprachlos – und das wollte etwas heißen, denn mittlerweile hatte sich meine  Schüchternheit doch langsam etwas aufgelöst, und es hatte sich herausgestellt, dass ich über eine natürliche Schlagfertigkeit verfügte. Eine Tatsache, über die damals niemand überraschter war als ich.

Ich schwieg also weiter, und Julian mit mir, während er intensiv das Muster meiner Bettdecke studierte. Dabei fiel mir mit Schrecken zum einen ein, dass ich darauf grad vorhin ein paar Schokoladeflecken platziert hatte. Und zum anderen wurde mir bewusst, dass ich vollkommen ungeschminkt war und fürchterlich gekleidet – ich hatte mich in dieser Julian-Trauerphase doch etwas gehen lassen. Plötzlich sah er auf, nahm mein Gesicht in beide Hände und flüsterte: „Aber ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken. Der Gedanke, dich nicht mehr zu sehen, hat mir die Luft genommen. Ich konnte nicht mehr lernen, nicht mehr Prüfungen schreiben, ich konnte gar nichts mehr. Du bist ein so wunderbarer Mensch. Du bist wunderschön! Und wenn du nicht geschminkt bist, wie jetzt grade, bist du noch viel schöner als sonst!“. Das reichte. Der Mann konnte offenbar auch noch Gedanken lesen. Ich schmolz dahin und war ihm ab diesem Moment haltlos verfallen – wenn ich das nicht schon seit unserer ersten Begegnung war. Ich küsste ihn ganz impulsiv leidenschaftlich auf den Mund. Auch wenn mein Fachbuch von solcher Eigeninitiative total abriet. Aber das war mir in diesem Moment so was von egal – schließlich war es mittlerweile ja schon das zweite Mal. Ich verdrängte wohlweislich in diesem Moment lieber, was nach dem ersten Mal geschehen war.

Im Ratgeber stand übrigens auch, man solle sich sehr viel Zeit lassen mit intimen Kontakten. Sex quasi erst mit dem Verlobungsring am Finger. Aber auch das war mir jetzt egal. Als Julian anfing, mich langsam und sehr behutsam von meinem Herzchen-Pyjama zu befreien, klappte ich das Buch in Gedanken zu und schleuderte es aus dem Fenster. Zum Teufel mit der Theorie – ich wollte jetzt endlich Praxis! Auch wenn meine Beine nicht rasiert waren. Aber Julian würde das hoffentlich so wenig stören wie die fehlende Schminke. Ich bereute es nicht. Alle sagen, das erste Mal sei für eine Frau nicht grad die Offenbarung. Für mich schon. Es war wie die Fortsetzung seiner Küsse: Alles stimmte. Im Nachhinein besehen und mit der Weisheit meines Alters denke ich allerdings, das war wohl vor allem deshalb, weil meine Gefühle endlich total stimmten und mich deshalb allein schon ein Blick aus seinen dunklen Augen zum Zittern brachte.

Danach lagen wir erschöpft auf dem Bett, und ich war sehr dankbar, dass es einen Paul gab, der mir Bea für diese Nacht abgenommen hatte. So würde ich nun also zum ersten Mal neben dem Mann meines Lebens einschlafen und am nächsten Tag mit ihm frühstücken können – lauter Premieren! Ich betrachtete zärtlich seine geschlossenen Augen und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Julian schreckte auf, sein Blick suchte nach dem Wecker auf meinem Nachtkästchen. „Oh Gott, so spät schon?“, sagte er, „ich muss los!“. „Los? Wohin?“, fragte ich verständnislos. Er nestelte nach seinen Kleidern, murmelte im Anziehen noch etwas von „Muss morgen früh raus – mitten im Studieren – lernen – Montag ist Prüfung…“ – und schon stand er in der Tür. „Ich liebe dich“, kam noch, etwas zu hastig, „wir sehen uns die Tage!“, dann war er weg. Ich war so verdattert, dass ich nicht mal daran gedacht hatte, etwas überzuziehen. Ich starrte – nackt, wie ich war – ratlos auf die geschlossene Tür und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Naja, was sollte ich sagen. Wenn er lernten musste, musste er lernen. Ich sollte mich wohl in Großzügigkeit üben, dachte ich schließlich, und der Gedanke tröstete mich ein wenig. Immerhin hatte er ja beim Abschied wieder gesagt, dass er mich liebe. Und dass wir uns „die Tage“ sehen würden.

Ich hatte keine Ahnung, was „die Tage“ für eine Zeitspanne waren. Offenbar für mich eine andere als für Julian. Denn er tauchte wieder unter und ließ nichts mehr von sich hören. Nach etwa einer Woche, die mir wie ein Jahr vorgekommen war, und in der ich Tausend Tode gestorben war, fasste ich mir ein Herz und rief ihn an. Nichts. Niemand hob ab. Auch nicht, als ich es eines Nachts in einem Anfall von Verzweiflung und nach einem spontanen Rückfall zu Batida-de-Coco sicher zwanzig Mal bei ihm klingeln ließ. Der Mann meines Lebens war und blieb verschwunden. Ich spielte im Geiste alle Möglichkeiten durch, von einer versehentlichen Verhaftung bis zu seinem plötzlichen Ableben, aber dem Glauben an eine solche Begründung für Julians Verschwinden stand dann doch leider meine Intelligenz im Wege. Schließlich ging ich wieder zur Wut-Phase über. „Und an so etwas hatte ich meine Jungfräulichkeit verschwendet?“, schäumte ich und vertraute mich auch endlich wieder Bea an, vor der ich sowohl die Nacht mit Julian als auch sein neuerliches Abtauchen verheimlicht hatte. Aus Angst vor ihren „Wusste ich doch“-Äußerungen. Nach einer etwas längeren, von mir in Demut ertragenden Belehrungsstunde darüber, mich nur mehr auf ihren Rat zu verlassen, traktierten wir schließlich gemeinsam eine winzige Voodoo-Puppe, auf die ich „Julian“ geschrieben hatte, mit Stecknadeln. Wir stachen dort zu, wo wir vermuten konnten, dass es am meisten wehtun müsse, und äußerten dabei recht unfromme Wünsche, die ich an dieser Stelle nicht wiederholen möchte. Aber irgendwie wirkte es erleichternd auf mich.

Zwei Tage später erreichte mich ein Brief von Julian: „Ich liebe dich. Aber ich kann das nicht. Sorry. Ich kann mich jetzt nicht für eine Beziehung entscheiden. Hör endlich auf, mich zu drängen“.

Bettina Maria König

Bettina König wuchs als Tochter eines tüchtigen Apothekers im sehr fernen Außerfern auf, wo es ihr aber bald zu kalt und provinziell wurde. Sie flüchtete nach Innsbruck und mutierte via Studium zum Dr. phil., um postwendend in die Riege der „Tirol Werber“ aufgenommen zu werden. Als das Bedürfnis nach Wärme noch größer wurde, nahm sie eine Stelle als Presseverantwortliche in Bozen an – nicht ahnend, dass es dort mit der Provinzialität noch schlimmer bestellt ist als im heimatlichen Reutte. Dem Berufsbild des professionellen Schreiberlings treu bleibend, durchlief sie in Südtirol mehrere Positionen und war zwischendurch auch freiberuflich als PR-Fachkraft, Journalistin und Texterin tätig. Das Bedürfnis nach kreativem Schreiben befriedigte sie unter anderem durch die Herausgabe eines Kinderbuchs („Die Euro-Detektive“) für eine Südtiroler Bank. Derzeit zeichnet sie für die Unternehmens-Pressearbeit von IDM Südtirol verantwortlich, hat die kreative Schreiblust aber immer noch nicht gebändigt. Zwei erwachsene Kinder.

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