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Alois Schöpf
Das Böse existiert!
2. Teil: Von Spannern und Gaffern
Essay

Nach einem Bericht der Deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erleben in den USA Kinder bis zur Erreichung des Grundschulalters im Fernsehen etwa 9000 Morde. Selbst wenn es in Europa weniger blutig zugehen sollte, gehören auch hierzulande Sendeformate wie „Tatort“ zu den beliebtesten Produktionen sowohl staatlicher als auch privater Fernsehanstalten. Im Krimi mit seiner immer gleich öden Dramaturgie finden über oft undurchsichtige Netzwerke in ihr Amt gelangte, zutiefst mediokre Fernsehspielredakteure die ideale Mischung aus minimiertem Risiko, geringem Arbeitsaufwand und dem Komfort, in den Freundeskreis berühmter Hauptdarsteller und Regisseure mit eingebunden zu sein. Ganz abgesehen von vielerlei Incentives, sich für die langjährige Zusammenarbeit mit den Produktionsfirmen diesseits und jenseits der Legalität hofieren zu lassen.

Das Publikum wiederum frönt, allseits abgesichert in bequemen Fernsehstühlen, in Ermangelung realer Gefahren, wie sie bis vor kurzem in der Geschichte noch alltäglich waren, der Angstlust des Wohlstandsbürgers. Weshalb es verwundert, wenn derselbe, obgleich offenbar in einem hohen Ausmaß an Mord, Totschlag, Vergewaltigung und Betrug gewöhnt, plötzlich empört darüber ist, bei einem Terroranschlag sekundenlang mitansehen zu müssen, wie ein Passant aus der Waffe des Terroristen niedergestreckt wird. Eine erste oberflächliche Antwort kann nur lauten: Er ist, wenn es um die Aufrechterhaltung seines unmittelbaren Wohlbefindens und seiner Genussfähigkeit geht, sehr wohl in der Lage, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden.

In den allermeisten Fällen mag diese Behauptung zutreffen, allerdings gibt es auch gewichtige Ausnahmen, welche die Sachlage verkomplizieren. Dann nämlich, wenn durch künstlerische Kompetenz die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt werden bzw. der Fiktion mehr Realität zukommt, als ihre flache Bebilderung im Rahmen von Nachrichtensendungen je bieten könnte. Auch der umgekehrte Prozess ist möglich: Wenn der Realität, etwa beim Zusammensturz der Twin Towers in New York oder beim Tsunami 2004 in Thailand und Indonesien, eine solche Magie des Unglaublichen und Katastrophalen zukommt, dass sie sich  in ein ästhetisches Ereignis, in ein Design des Schrecklichen verwandelt. Für Ersteres, die Intensivierung des Realen durch das Fiktionale, und nur dies ist für die vorliegenden Überlegungen relevant, können als Beispiele die Filme „Bennys Video“ von Michael Haneke oder „Die Passion Christi“ von Mel Gibson angeführt werden. Hier wird Fiktion in einer Weise zu einem Realismus des Schmerzes, dass sie, nicht vergleichbar etwa mit einem noch so brutalen „Tatort“, von der übergroßen Mehrheit des Publikums als unverdaulich abgelehnt und daher ins Nachtprogramm, der Endlagerstätte für Kunst, verbannt wird.

Es geht also mitnichten nur um den simplen Unterschied zwischen Realität und Fiktion. Es geht, wie im 1. Teil der Überlegungen bereits angedeutet, um die Rolle des Zusehers, der, abseits aller unmittelbar sexuellen Konnotationen, als unbeteiligter und feiger Voyeur den Kitzel der Gefahr vermittelt bekommen möchte, niemals jedoch ungeschützt in eine reale oder als Realität misszuverstehende Grausamkeit involviert werden will. Der Voyeur, der Spanner, der Gaffer möchte tunlichst Verbotenes erleben, ohne daran beteiligt zu sein. Der Preis für seine Sicherheit und seinen Komfort ist die stets lauernde Langeweile. Das Spiel mit Mord und Totschlag erleichtert ihm die Imagination, zumindest in der Fantasie aus seinem nicht gelebten Leben auszubrechen.

Um Einschaltziffern zu lukrieren, haben Fernsehanstalten, nicht anders wie die Romanschreiber und ihre Verleger des 19. Jahrhunderts, auch im 21. Jahrhundert diese Rolle des Zusehers als Voyeur anzuerkennen und zur Aufrechterhaltung des  Geschäftes penibel zu schützen. Dies kann jedoch nicht einfach dadurch geschehen, dass aus den Nachrichtensendungen, die sich mit den Realitäten unserer Gegenwart zu beschäftigen haben, alle bildlichen Darstellungen von Grausamkeiten eliminiert und, wie Hans Rauscher es erträumen würde, lediglich in sprachlicher Darstellung und Empörung präsentiert werden. Wenn der Senatssprecher des Österreichischen Presserates Andreas Koller es daher als Aufgabe der Journalisten bezeichnet, als medienethische Kontrollinstanz in die Rolle des „gatekeeper“ zu schlüpfen, schützt er nicht nur die Interessen der Branche, sondern verkauft auch noch, wie auch Kollege Wolf in derselben ORF-Sendung „Kunststücke“ vom 16. November, mit menschenrechtlichem Wortgeklingel heuchlerisch die Weigerung, Realität abzubilden, als sittliche Leistung.

Der Voyeur, der Spanner, der Gaffer teilt mit dem Journalisten nicht nur die Sehnsucht, unter keinen Umständen mit in die Geschehnisse hineingezogen zu werden, sondern stets über ihnen als richterliche Instanz zu stehen. Er möchte auch, bei gleichzeitig ungestörtem Ruhegenuss das Selbstbildnis, ein kritischer und wahlberechtigter Zeitgenosse zu sein, erhalten wissen. Denn nur durch dieses Wissen wird seine Ignoranz veredelt und kann somit als Ignoranz ignoriert werden.

Hier scheinen nun Vater und Sohn Fellner im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals als kommerzieller Sender und einer härteren journalistischen Gangart die Nehmerqualitäten, wie viel sie ihrem Publikum bzw. ihrer Kollegenschaft zumuten können, überschätzt zu haben. Ihre Fehleinschätzung führte denn auch zu inzwischen 1500 Beschwerden beim Österreichischen Presserat und schweren kolumnistischen Rügen. So sehr nämlich nicht einmal das seriöseste und, auf Österreich bezogen, josephinischste Medium auf Nachrichtensendungen mit der dramaturgischen Würzung durch grausame Bilder verzichten kann, so sorgfältig ist die Zensurliste jener Motive und Sequenzen zu beachten, die eingesetzt werden dürfen, um einerseits die Angstlust des Voyeurs abzufüttern, und andererseits die Funktion zu erfüllen, wie bereits betont, sowohl die Selbstachtung des vor dem Fernsehapparat Sitzenden als kritischer Bürger als auch die Selbstachtung des hinter dem Fernsehapparat Arbeitenden als kritischer Journalist und als Vierte Macht im Staate zu gewährleisten.

Um zu verdeutlichen, was unter einer solchen Zensurliste, dem Index der politischen Korrektheit sozusagen, zu verstehen ist, genügt es, an nur wenigen Beispielen aufzuzeigen, worüber konsequent nicht berichtet wird. Nicht minder interessant ist es jedoch, in der Folge ebenfalls aufzulisten, über welche Themen aufgrund eines Konsenses zwischen Voyeuren, Spannern und Gaffern einerseits und den Nachrichtenproduzenten andererseits sehr wohl berichtet werden darf und soll, auch wenn dies mit grausamen Bildern und Sequenzen verbunden ist.

Eine abschließende Analyse, weshalb das eine nicht, das andere jedoch sehr wohl am Markt der Aufmerksamkeit reüssiert und weshalb Vater und Sohn Fellner die Lage falsch eingeschätzt haben, ermöglicht zuletzt einen scharfen Blick auf das, was im 1. Teil der Überlegungen als Verrat an der Aufklärung und als defiziente Entwicklung der Information hin zum Infotainment bezeichnet wurde.

Beispiele dessen, was nicht gezeigt wird:

1. In Erinnerung an das durch ikonographische Bilder mit herbeigezwungene Ende des Vietnamkriegs obliegt die Kriegsberichterstattung seit dem Einmarsch der US-Truppen sowohl in Afghanistan als auch in den Irak strengster Zensur.

2. Hinrichtungen durch Enthauptung aus dem für den Westen wichtigsten Ölproduzenten Saudi-Arabien werden ebenso wenig gezeigt wie die wahrscheinlich vom Saudischen Kronprinzen angeordnete Ermordung des Journalisten Kashoggi mit anschließender Auflösung in einem Säure-Bad, ein Vorgang, von dem über geheimdienstliche Aufzeichnungen sehr wohl zumindest Ton-Dokumente existieren. Aufgrund solch vornehmer Zurückhaltung darf Saudi-Arabien weiterhin als geachtetes Mitglied der Weltgemeinschaft und als wichtiger Importeur teurer Rüstungsgüter gelten, statt als korrupte, zurückgebliebene, rassistische und brutale Stammesdiktatur isoliert zu werden.

3. Das öffentliche Schauspiel, im Rahmen dessen im Gottesstaat Iran mit seinem totalitären Priesterregime bei gleichzeitig brüllenden Mullah-Gebeten mithilfe von Baukränen Leute aufgehängt werden, fällt ebenso der Zensur unserer heimischen Gatekeeper zum Opfer. Auch hier verhindert falsche Scham das klare Urteil über ein religiös fundiertes faschistisches Regime abseits aller Menschenrechte, von einer viel zu toleranten, sprich bequemen Haltung der europäischen Länder im Hinblick auf den Bau einer iranischen Atombombe ganz abgesehen.

4. Öffentliche Massenhinrichtungen in China schaffen es nur in Ausnahmefällen, Materialien über den gerade laufenden Völkermord an den Uiguren fast nie in die Schlagzeilen der europäischen Nachrichtensendungen. Derlei Verharmlosungen werden zur Folge haben, dass Chinas lächelnde Diktatoren in absehbarer Zeit das demokratische und in vielerlei Hinsicht vorbildliche Taiwan in gleicher Weise einkassieren werden, wie sie es bereits mit Hongkong getan haben. Auch in diesem Fall wird sich der europäische Voyeur, Spanner und Gaffer bis hinauf in die Schwätzburgen der EU in seinem abendlichen Nachrichtengenuss nicht sonderlich beeinträchtigt fühlen.

5. Ähnliches gilt auch für die Zustände in Nordkorea mit seinen angeblich 5000 Konzentrationslagern, ein Land, in dem Zustände herrschen, die schon längst von einer internationalen Interventionsarmee unter der Führung der UNO hätten beendet werden müssen. Stattdessen darf der junge Diktator der ausgehungerten und zum Wahnsinn des Personenkults verurteilten Nordkoreaner als bunte Polit-Comic-Figur auf einem weißen Schimmel reiten, mit dem amerikanischen Präsidenten einen Briefwechsel führen und zwischendurch demonstrativ seinen dicken Finger auf den roten Startknopf einer Atomrakete legen.

6. Die Liste solch weltpolitischer Ignoranz könnte noch lange fortgesetzt werden. Daher nur ein letztes Beispiel, das mit Politik im engeren Sinn nichts zu tun hat und lediglich darauf abzielt, dem Voyeur, dem Spanner und dem Gaffer als Kunden das Abendessen nicht zu vermiesen. So schaffen es Aufnahmen von Schlachthöfen und den dort stattfindenden Massen-Schlachtungen fast nie, Tiertransporte und jeder artgerechten Haltung hohnsprechende Zuchtmethoden nur sehr selten in die abendliche Berichterstattung. Würden Sie es tun, würde der Fleischkonsum abstürzen und die tierquälerische Zucht etwa von Nerzen zur Herstellung von Pelzen allein durch die Kraft der Bilder und Bildsequenzen und der damit erzwungenen Empathie rasch ein Ende finden.

Von Bildern und Bildsequenzen, durch die es gelang, Misständen tatsächlich Grenzen zu setzen, Katastrophen abzuwenden und ein rasches Umdenken der Gesellschaft herbeizuführen, soll im nächsten Teil die Rede sein.

Fortsetzung Freitag 27.11.2020

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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